1966 in Frankreich geboren.
Lebt und arbeitet seit 1990 in Klosterneuburg bei Wien – von 2010 bis 2013 in Istanbul.
Selbstständige Übersetzerin (Belletristik, Kunst, Film, Theater, Lyrik) und Autorin (Romane, Erzählungen, Kurzprosa, Aufsätze zur Literatur- und Übersetzungswissenschaft, Poetry Slam Texte).
Veröffentlichungen in französischen und österreichischen Zeitschriften.
Slammerin und Cut-Outs-Kleberin unter dem Namen Ann Air.
Doktorat der Geisteswissenschaften an der Universität Wien. Masterstudium der Germanistik und Deutschen Philologie an der Universität Toulouse. European Bachelor in Marketing.
Vorstandsmitglied der IG Übersetzerinnen Übersetzer, Mitglied der ATLF, der Literar-Mechana, des PEN Austria und der IG AutorInnen. Aktivmitglied des Vereins Bieler Gespräche.

Das Es

„I have a dream. I dream of a beautiful world
where no woman is opressed.“
Taslima Nasrin

Du kannst nicht atmen wegen der Covid-Maske?
Du kannst nicht schlafen wegen durchzechter Nacht?

Es ist nicht der Mundschutz, der mir den Atem raubt,
es ist nicht das Durchfeiern, das meine Nächte klaut.

Es ist ein Es, es ist ein Das,
es ist ein Wort ohne Geschlecht.
Es ist das Böse, es ist das Schlechte:

Es ist das Covid-Virus in den Verteilerzentren,
das viele Ungeziefer in den Matratzenlagern,
das schimmlige Quartier der Spargelerntehelfer.
Es ist das „neue Arbeitsverhältnis“, flexibel sprich — prekär,
das Kündigungspapier oder das Hamsterrad,
Einbahnweg zum Burn-Out oder zum Herzinfarkt.

Es ist das viele Fett in unsrem Billigessen,
bis zum Leberkollaps, zum Platzen der Aorta,
das Nitrat im Salat und in meinem Trinkwasser.

Es ist das AID-Syndrom
und das Tier namens Krebs.
Es ist das Essverhalten, gestört,
Mager- und Ess-Brech-Sucht,
das Es, das Unbewusste,
das Biest im Mädchenkörper, das flüstert:
„Du bist nie dünn, nie gut, nie cool genug“.
Es ist das Ungeheuer, unsagbares Tabu,
das nachts das Kind heimsucht,
Vater, Onkel, Nachbar,
und manchmal auch Bruder.

 

 

 

 

Es ist das Plastik und das Zellophan
In allen Meeren, allen Ozeanen.
Es ist das Bienensterben und das Eisschollenschmelzen,
das kahl gerodete Amazonasbecken.
Das Erdfeuer, das Ernte und Steppe entflammt,
das auslaufende Öl im Golf von Mexico,
Galicien, Mauritius,
das Giftgas von Bhopal,
das Napalm in Vietnam.

Es ist das Österreich der 1930er Jahre,
das radikal(e) und das banale Böse.
Es ist das Hakenkreuz an der Wand einer Schule,
das Schild am Parkeingang „für Hunde und für Juden verboten“,
und das Glas Veronal, das Ende Stefan Zweigs.
Und auch das Gestapo-Verhör, das Verdikt Todesstrafe
mit Endstation KZ, Schafott und Scheiterhaufen,
das Inquisitionstribunal und das Hexenverbrennen,
das trojanische Pferd und das Kleid der Medea.

Das Massaker an Tutsi, Armeniern und Rohingya,
das Massengrab von Liescha oder von Srebrenica.

Es ist das A und O der Bandenkriege und der Familienfehden,
das O von Romeo und das A von Julia.
Es ist das A von Angst, das O von Omerta
Camorra, Cosa Nostra
und japanische Mafia.
Das 22er Kaliber der Pariser Vorstadt,
das Gesicht Malalas und das Urteil „Fatwa“
gegen Salman, Sara und gegen Taslima.[1]

Es ist das negative Ergebnis eines Asylverfahrens,
das nie eingelöste Versprechen eines sehr reichen Landes,
das sich zukunftsreich nennt.
Es ist das Mittelmeer, das Hoffnungen ertränkt,
das Flüchtlingslager Moria, gelöscht, in Schutt und Asche.

Und du, du kannst nicht atmen wegen der Covidmaske?

[1] Die Schriftsteller:innen Salman Rushdie, Sara Santanda und Taslima Nasrin.

Wien, im März 2021