Vom Ringen mit der Utopie

Wissen(schaft) und Gewalt(freiheit) in der kolonialen Moderne

Von Claudia Brunner

„Der Zwang zur Reflexion von Gewalt und unserem Verhältnis zu ihr besteht dauernd. Kein Wunder, dass viele sich entlasten wollen und also die Welt in feste Teile aufspalten: Gewaltfreie und gewalthafte. Gerade dadurch werden sie freilich insgeheim zu Komplizen von Gewalt.“ Wolf-Dieter Narr

Gewalt ist: anderswo, anderswas, anderswer

Gewalt und Wissen(schaft), so scheint es, haben nichts miteinander zu tun. Dort, wo Gewalt analysiert und theoretisiert wird, – so die Annahme –, ist Gewalt nicht. Ausgehend von einem meist auf direkte und körperliche Verletzung fokussierten Verständnis von Gewalt gilt das Feld der Wissensproduktion nicht nur als gewaltfrei, sondern auch als Domäne, von der aus Gewalt überwunden und Gewaltfreiheit in die Welt gebracht werden kann. Vielfältig, dynamisch und oft auch mehrdeutig sind dabei die Phänomene selbst, die wir mit Gewalt und auch mit Gewaltfreiheit bezeichnen. Allzu oft geraten dabei auch politische, disziplinäre und analytische Zugänge durcheinander. Unberücksichtigt oder undifferenziert bleiben zumeist strukturelle, kulturelle, symbolische, kulturelle, normative und epistemische Gewalt. Diese sind eng miteinander sowie mit direkter physischer Gewalt verwoben. Auch Gewaltfreiheit, so mein Argument, muss von diesem Verständnis aus gedacht werden. Die Dimension des Wissens dabei stärker zu berücksichtigen, indem man sie ausgehend vom Konzept der kolonialen Moderne denkt, vertieft und bereichert die Auseinandersetzung um aktive Gewaltfreiheit.

Inschrift beim Eingang in das British Museum, London, GB (Foto: Claudia Brunner)

Epistemische Gewalt

Der Begriff epistemische Gewalt stellt die Trennung von Wissen- (schaft) und Gewalt(freiheit) in Frage. Er bezeichnet jenen Beitrag zu Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen, der dem Wissen selbst innewohnt und für die Analyse eben dieser Verhältnisse unsichtbar geworden ist. Er stellt zur Diskussion, welche Funktionen wissenschaftliche Wissensproduktion – die gemeinhin als gewaltfrei und gewaltüberwindend gilt – hinsichtlich der Etablierung und Aufrechterhaltung von Gewaltverhältnissen in einer von globaler Ungleichheit und Asymmetrie geprägten Welt erfüllt.

Damit sind nicht nur machtvolle Institutionen und Praktiken der Wissensproduktion gemeint, die ausschließend und hierarchisierend wirken, wie etwa Rassismus, Klassismus und Sexismus. Es geht um die mit diesen Dimensionen verwobenen methodologischen, theoretischen und epistemologischen Grundlagen des Wissens selbst. Aus der hier eingenommenen Perspektive sind diese Grundlagen aufs Engste mit Herrschafts- und Gewaltverhältnissen ganz konkreter, manifester Art verwoben. Wissen und Gewalt müssen in diesem Zusammenhang analysiert und auch theoretisiert werden, so mein Argument.

Ausgehend vom Begriff epistemischer Gewalt, der die Verwobenheit von Wissen und Gewalt bezeichnet, will ich in meinem Beitrag einige Fragen aufwerfen, die nicht nur für unser Verständnis von Gewalt, sondern auch für jenes von Gewaltfreiheit relevant sind. Daraus können keine einfachen Antworten resultieren. Vielmehr führt diese Perspektive auf die Tatsache zurück, dass um Gewaltfreiheit immer – auch konzeptionell – gerungen werden muss.

Den Begriff epistemische Gewalt zur Analyse und Kritik globaler Macht-, Herrschafts- und Gewaltverhältnisse zu benutzen bedeutet allerdings nicht, direkte Gewalt zu ignorieren. Ein weites Gewaltverständnis muss auch keineswegs mit einer Relativierung von direkter physischer Gewalt einhergehen. Die Thematisierung epistemischer Gewalt ermöglicht vielmehr deren Relationierung, in dem sie rund um die Analyse und Kritik anderer Formen von Gewalt den Blick auf den Zusammenhang zwischen dem Wissen und dem Ort seiner Entstehung schärft. Erst wenn dieser Kontext mit ins Bild kommt, können die Verbindungen zwischen Formen direkter physischer Gewalt einerseits und epistemischer Gewalt andererseits problematisiert und analysiert werden.

Kolonialität

Insbesondere Autor*innen aus dem sogenannten Globalen Süden argumentieren, dass wir auch nach dem formalen Abschluss der politischen Dekolonisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einem anhaltenden Zustand der Kolonialität leben. Diese Kolonialität, so das Argument, bildet die konstitutive Unter- oder Kehrseite der Moderne, die daher koloniale Moderne genannt wird. Post- und de-koloniale Stimmen verweisen darauf, dass die heute globale Durchsetzung des Kapitalismus eng mit dem europäischen Projekt des Kolonialismus verwoben ist, das die Welt 500 Jahre lang geprägt und Auswirkungen bis in die Gegenwart hat.

Bei dieser Analyse und Kritik von Ungleichheits- und Gewaltverhältnissen im globalen Maßstab nimmt die Dimension des Wissens eine zentrale Funktion ein, weil auch dieses – eurozentrische – Wissen als konstitutiver Bestandteil der kolonialen Moderne verstanden wird. Daraus folgt die Forderung, jegliche Form von Macht, Herrschaft und Gewalt in diesem Kontext der anhaltenden Kolonialität und somit auch in ihrer epistemischen Dimension zu analysieren. Rassismus, Sexismus, global asymmetrische Klassenverhältnisse und zahlreiche weitere soziale Platzanweiser sind dann nicht mehr nur politische Missstände, denen man mit einem humanistischen Universalismus und entsprechenden Politiken begegnen kann. Vielmehr konstituieren sie tiefliegende epistemologische Voraussetzungen für unser Handeln, unser Denken, unser Sein.

Nicht zuletzt über diese wissenschaftstheoretische Reflexion wird deutlich, dass die Moderne in der behaupteten Linearität, Fortschrittlichkeit, Aufgeklärtheit, zivilisatorischen Überlegenheit und daraus resultierenden Gewaltfreiheit vor allem eines ist: ein machtvoller Mythos, der die gewaltsamen Prozesse der Moderne selbst unsichtbar macht, beschönigt oder auch legitimiert. Der Dimension des Wissens, die in den meisten Analysen von Gewalt und Gewaltfreiheit weitgehend vernachlässigt wird, kommt in der Entstehung und Tradierung dieses hartnäckigen Mythos eine zentrale Funktion zu. Sie muss daher auch bei dessen Dekonstruktion verstärkt Berücksichtigung finden.

Gewaltfreiheit neu denken

Ausgehend von diesen Überlegungen sollten wir auch über Gewaltfreiheit, Gewaltlosigkeit und Gewaltverzicht erneut nachdenken. Denn wenn Gewalt nicht nur anderswo, anderswer und anderswas ist, wenn sie nicht mehr jenseits von Wissen(schaft) verortet werden kann, sondern über die Naturalisierung von Macht-, Gewalt- und Herrschaftsverhältnissen auch in unseren Ressourcen und Praktiken des Wissens abgelagert ist, so folgt daraus, dass epistemische Gewalt potenziell auch dort ist, wo man sich um die Vermeidung und Überwindung von Gewalt bemüht. Sich einfach von ihr loszusagen und nicht nur physische, sondern auch epistemische Gewaltlosigkeit für das eigene Denken und Handeln zu beanspruchen, ist auf dem von Rolando Vázques so genannten epistemischen Territorium der Moderne ebenso wenig möglich wie man sich struktureller, symbolischer, kultureller oder normativer Gewalt vollständig entziehen kann. 

Ausgehend von dieser produktiven Verkomplizierung der Frage nach Gewalt und Nicht-Gewalt werfe ich einige Fragen für ein lebendiges Weiterdenken aktiver Gewaltfreiheit auf:

Wenn auch unser Denken von einer in vielerlei Hinsicht gewaltdurchdrungenen Kolonialität geprägt ist, wie kann aktive Gewaltfreiheit dann überhaupt gedacht und vor allem praktiziert werden? Ist so etwas wie strukturelle, symbolische, kulturelle oder gar epistemische Gewaltfreiheit überhaupt vorstellbar oder gar realisierbar? Stellt sie ein normatives Ideal und eine produktive Utopie dar, oder lediglich eine Illusion, die angesichts allgegenwärtiger und zahlreicher Formen von Gewalt verabschiedet werden muss? Oder handelt es sich bei aktiver Gewaltfreiheit womöglich um etwas, das ausgerechnet mittels – epistemischer – Gewalt erreicht werden kann? Und was hätte dies dann mit Gewaltfreiheit in jenem Sinne zu tun, die Freiheit von möglichst allen Formen von Gewalt meint und immer auch deren direkte und physische Erscheinungsformen vor Augen hat? Wie kann aus der Erkenntnis und Analyse der Allgegenwart von Gewalt eine Ressource werden, um sich ihren unterschiedlichen Formen zu widersetzen? Was bedeutet es, sich selbst als in Gewaltverhältnisse unterschiedlicher Art verstrickt zu verstehen? Welche intellektuellen, politischen und persönlichen Grenzverschiebungen gehen damit möglicherweise einher? Was muss daher in den Theorien aktiver Gewaltfreiheit ebenso wie hinsichtlich ihrer Praktiken problematisiert und revidiert, und woran soll und kann festgehalten werden? 

Dieser Beitrag erschien in der Zeitschrift SPINNRAD (Heft 3, 2019) und stellt eine Zusammenfassung eines Vortrags zum Symposium über aktive Gewaltfreiheit in Linz im Sept. 2019 dar.
Zum Weiterlesen: Claudia Brunner (2020): Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne, Bielefeld, transcript