LOJZE WIESER

Gebet der Kinder

VORBEMERKUNG

Das Gebet der Kinder wurde als Rede geschrieben, die ich vor der Jugendfriedensflotte in Dubrovnik – auf Einladung des Österreichischen Kulturinstitutes in Zagreb – 1995 hätte halten sollen. Die Veranstaltung wurde tags zuvor – wegen der in der Adria schwimmenden Wasserminen – abgesagt. Ich habe nun das Gebet der Kinder – nach mehr als 18 Jahren – für die Thomaspredigt (am 2. Juni 2013) ein wenig bearbeitet. Bisher wurde es ein einziges Mal öffentlich vorgetragen, anlässlich einer Lesung in Graz und wurde vom Liedersänger Vlado Kreslin mit seiner Gitarre begleitet. In der Ursprungsversion ist es in meinem Buch „Die Zunge reicht weiter als die Hand“ abgedruckt.

I.
Wir, die wir nicht wissen, was ihr wißt;
Wir, die wir nicht hassen, wie ihr haßt;
Wir, die wir nicht verzweifeln an der Güte des Anderen, wie ihr es seid;
Wir, die wir noch lieben, ohne zu fragen, woher wer kommt;
Wir, die wir leben wollen, ohne gezählt, nach Rasse
oder nach der Reinheit des Blutes gefragt zu werden;
Wir, die wir uns spielerisch begegnen, ohne Mißtrauen;
Wir, die wir die Eigenheiten jedes Einzelnen anerkennen
und diese als Selbstverständlichkeit nehmen;
Wir, die wir weinen, wenn wir Ungerechtigkeiten sehen;
Wir, die wir leben wollen und von euch nichts anderes
verlangen, als uns in Frieden leben zu lassen;
Wir, die wir unsere Gegenüber achten wollen und ihm
unsere Achtung entgegenbringen möchten;
Wir, die wir beim Spielen lieber verdreckt als sauber,
geschweige denn rein sein wollen;
Wir, die wir nicht fragen, was ihr falsch gemacht habt,
nur um zu beweisen, daß ihr unrecht habt;
Wir, die wir nicht unterscheiden wollen zwischen Ethnie und Rasse, sondern uns jeder Mensch mit ehrlichem Blick und ehrlichem Wollen Mensch ist;
Wir, die wir nicht unterscheiden zwischen Religionen und Kulturen, da uns Religion ist, wenn jemand zu seinem Gott betet und von ihm Kraft bezieht oder jemand glaubt, ohne an einen Gott zu glauben und uns Kultur ist, was dem Anderen Freude bringt, ihn erheitert und nachdenken, weinen und sinnieren läßt, ganz egal in welcher Sprache und uns dadurch bereichert;
Wir, die wir nicht wünschen, vergangenes Unrecht immer neu aufgebrüht und von mal zu mal verwässert vorgesetzt zu bekommen;
Wir, die wir statt Einfalt Vielfalt wünschen;
Wir, die wir ein offenes Aufeinanderzugehen statt Falschheit im Begegnen leben möchten;
Wir, die wir euch sagen : Wenn ihr hassen wollt, dann tut es ihr, wir wollen es nicht. Wir wollen leben und nicht sterben, wir wollen nicht unterdrücken, sondern Neues zum Leben erwecken;
Wir, die wir Eure auf jahrhundertealte Lügengebäuden aufgebauten Märchen und aus der Mottenkiste der Vergangenheit hervorgezauberten Argumente kein Vertrauen mehr schenken, möchten Euch auch sagen: Eure Lügen heute sollen unsere Geschichte morgen sein. Verbrämt, verklärt, verzogen und verlogen, mit Chauvinismus, Haß und Kurzsichtigkeit infiziert, wo Ihr Euch Eure glorreichen Teile zusammengesucht habt, je weiter zurück und blutiger, desto heiliger und beschwörerischer sind Eure Formeln. Für solche Wahrheiten möchten wir Euch nicht zur Verfügung stehen, denn noch bevor wir zu leben beginnen, werden wir in Kriege geschickt um Propagandastoff für Eure neuen Lügen abzugeben;
Wir, die wir in unseren Seelen frei sind von Vorurteilen, wollen nicht die Herzen unserer Kinder und die der Kindeskinder mit ganzen Lügengebäuden belasten.
Das lassen wir nicht zu.

II.
Wir lassen uns nicht mißbrauchen und dirigieren, noch bevor wir für uns gelernt haben, was Leben ist, was Achtung ist, was Freiheit und was Gleichheit ist und was Brüderlichkeit sein könnte;
Wir wünschen nicht, vor Karren gespannt zu werden, die chauvinistischen Unrat transportieren und damit heutiges Handeln rechtfertigen;
Wir wünschen nicht, den verfahrenen Karren aus dem Dreck zu ziehen, den Ihr hineingefahren habt, weil Euch das Morgen und die Menschen gleichgültig sind;
Wir wünschen nicht und pfeifen drauf, von Euch für mögliche und in Zukunft begangene Sünden heute und im voraus auf Generationen hinaus, bestraft zu werden;
Wir wünschen nicht als dumm verkauft und als unwissend hingestellt zu werden, denn mit uns und in uns wird der Samen aller Schöpfung transportiert, gestaltet und verwaltet, wird alles Wissen mitgeführt, ohne damit auch nur den leisesten Anspruch erheben zu wollen, das Rad der Geschichte neu erfunden zu haben;

Wir wissen was wir tun.

III.
Wir lieben viel zu sehr die Freundschaft der sich gegenseitig Achtenden;
Wir lieben viel zu sehr die Freiheit jedes Einzelnen, um IHN als Pfand für die Freiheit der Gesellschaft zu mißbrauchen oder herzugeben;

Wir lassen uns unsere Liebe nicht nehmen.

IV.
Wir wissen aber auch, daß sich Feigheit nicht bezahlt macht und den Keim von Zerstörung und Verrat in sich trägt;
Wir wissen aber auch, daß nur zwei gleichberechtigte Individuen und Persönlichkeiten frei entscheiden können, wenn sie sich mit Achtung gegenüber stehen, wo gegenseitiges Zurücknehmen eine Verneigung vor dem Wissen des Anderen und dem Stolz des Gegenüber und für jeden Einzelnen Gewinn an Menschlichkeit bedeutet;
Wir wissen aber auch, daß im vergangenen Jahrhundert schon viele von uns dem Kriegsgott geopfert wurden, zermalmt, zerschlagen, mit einem Schlag gealtert und der Zukunft beraubt, noch bevor sie die geringste Chance hatten, die eigene Lebensmorgenröte in der Weite der Zukunft zu erspähen;
Wir wissen aber auch, daß uns viele unserer Eltern geraubt und jeweils für die gerechten Ziele der verschiedenen Ideologien geopfert wurden;
Wir wissen aber auch, daß heute auf allen Kriegsschauplätzen der Welt unsere Altersgenossen mit menschenverachtendem Grauen programmiert werden;
und
Wir wissen, daß wir für all das bezahlen, noch bevor es uns zu Bewußtsein gekommen sein wird; und

Wir wissen ganz genau, daß Ihr dazu schweigt.

V.
Wir fühlen uns verraten und verkauft, so leer und alt, noch bevor es uns vergönnt ist, von selbst alt zu werden, noch bevor es uns erlaubt ist, selbst Erfahrungen zu sammeln;
Wir hofften eigentlich, daß zumindest ein Teil von Euch sich noch erinnern wird, was es war und wie es war, als vor einem guten halben Jahrhundert 60 Millionen Menschen vernichtet wurden und sich auch erinnern wird, wie – vor Freude diesem Grauen entgangen zu sein – Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg skandiert wurde;
Wir hofften, daß Euer Blick nicht nur an Schärfe gewinnt, wenn er auf Vergangenes gerichtet ist, sondern diese Schärfe behalten würde, wenn neue Formen menschenverachtender Ideologien auf seichten Pfoten dahergekrochen kommen;
Wir hofften schon, daß bei den Feiern zum Sieg über das Barbarentum vor mehr als sechzig Jahren die Schizophrenie überwunden werde und wir dachten schon, es wäre jetzt so weit: Der Mensch hätte es gelernt, den Anderen zu achten, um seiner Achtung willen und mußten sehen, daß zur selben Zeit, ja zur selben Stund´, vergessen wird, was hier und heut um uns geschieh; dass man im Brustton der Überzeugung den „zivilisierten“, Teil Europas, also jenen, in dem man selber lebt, als seine Heimat nennt und den anderen, aus dem die Migranten und Emigranten kommen, als den barbarischen nennt und ihm oft mit tiefster Mißachtung begegnet und nicht begreift, daß „das imposante Bauwerk der europäischen Zivilisation auf den Skeletten zahlreicher unterdrückter europäischer Völker“ (Krleža) errichtet wurde und ihm immer nur die Rolle eines „Idealmodells eines Militärkordons“ (Krleža) zugedacht war; erinnern wir uns nur des Kriegs in Ex-Jugoslawien;
Wir hofften, Ihr werdet nicht zur Tagesordnung übergehen, sondern beginnen zu begreifen, daß die Teilung Europas in einen barbarischen und einen zivilisierten Teil die Grundlage jahrhundertedauernden Kriege war und, so lange bis diese Überwunden wird, auch bleiben wird;
Wir hofften, ihr werdet Euch nicht dauernd hinter den Zeitgeistfloskeln und dem passiven Schulterzucken verstecken und daß Ihr Euch wandeln werdet. Vieles, was ihr habt, habt ihr wegen der Privilegien, die die Anderen nicht haben.

Wir wollen so nicht leben!