ERFOLGE GEWALTLOSEN WIDERSTANDS

Erfolgsbeispiele gewaltlosen Widerstands und gesellschaftlicher Versöhnung aus Vergangenheit und Gegenwart

Von  Alfred Racek

Mein Herz getrost, und lass das Klagen,
Und stelle deinen Kummer ein,
Und lass von allem Verzagen
Nicht länger mehr die Rede sein.
Nicht ewig herrschen kann auf Erden
die Willkür und die Tyrannei,
Nein, anders, besser wird es werden;
Und wir auch, Herz, wir werden frei.
Es gilt nur um sich her zu schauen,
Zu sehn, wie rings es gärt und kocht,
Wie jedes Herz …
Begeistert für die Freiheit pocht.
(Theodor Fontane)

In unruhig schlimmer, vorrevolutionärer Zeit verfasste Fontane 1842 diese Zeilen in seinen „Frühlingsliedern“. Diese bringen uns mitten in unser Thema: Wie konnten bessere gesellschaftliche Zustände gewaltlos errungen werden.

Antworten bieten die folgenden Beispiele. Sie bedeuten Verbesserungen im Großen, die über kürzere oder längere Zeit, ja sogar auf Dauer Bestand hatten bzw. haben. Mehr ist von ihnen auch nicht zu verlangen, unterliegen doch auch sie der Ambivalenz der menschlichen Natur. Diese ist ja  zum Guten wie zum Bösen geneigt, wobei bald das Eine, bald das Andere im Vordergrund steht  und überwiegt.

Charismatische Persönlichkeiten

MOHANDAS KARAMCHAND (Mahatma) GANDHI   

1869 – 1948 (von fanatischem Hindu ermordet)

Gandhi entwickelte 1893 – 1914, aufbauend auf Ideen von Leo Tolstoi, in Südafrika im Kampf um die politischen Rechte der indischen Einwanderer seine Methode des gewaltlosen Widerstands: Durch das Festhalten an der Wahrheit soll der Gegner zur Einsicht in sein Fehlverhalten und zu einer Änderung seiner Handlungsweise gebracht werden. Mittel dazu war u. a. ziviler Ungehorsam. Für bewusste Gesetzesübertretungen nahmen Gandhi und seine Anhänger auch Gefängnisstrafen in Kauf.

Sein bleibendes Verdienst ist die weitgehende Verhinderung von Blutvergießen im Kampf um die Unabhängigkeit Indiens. Stark geprägt war sein politisches Handeln vom Hinduismus, aber auch von der Bergpredigt, die ihn inspirierte: Selig, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das Land erben. (Mt 5,5)

> Kurzfassung der Vorträge vom Linzer Gandhi-Symposium  (Sept. 2019, 80 Seiten, pdf 2,5 MB)
Daraus ein Zitat aus der Rede Christine Schweitzers: „Das wohl derzeit am häufigsten zitierte Werk ist das von Erica Chenoweth und Maria J. Stephan, „Why Civil Resistance Works“ (2011), das als erstes auf der Basis quantitativer Analyse und dem Anlegen einer Datenbank Fälle zivilen und gewaltsamen Widerstands miteinander vergleicht. Sie zählten 107 gewaltfreie Aufstände („civil resistance“, „ziviler Widerstand“) im Zeitraum zwischen 1900 und 2006 und wiesen nach, dass ziviler Widerstand fast zweimal so erfolgreich ist als gewaltsamer: Im Vergleich zu bewaffneten Aufständen (das gesamte Sample umfasst 323 Fälle) hatten in 51 Ländern gewaltfreie Bewegungen Erfolg, in weiteren 26 Ländern Teilerfolge. Damit waren die gewaltlosen bzw. gewaltarmen Aufstände zu 52% erfolgreich. Die gewaltsamen hatten hingegen nur eine Erfolgsrate von 26%. Und nach Karatnycky & Ackerman (2005) wurden zwischen 1972 und 2002 67 autoritäre Regime beseitigt, mehr als 70% davon als Ergebnis gewaltloser Aufstände.“

MARTIN LUTHER KING

1929 – 1968 (Opfer eines Mordanschlags)

Ein winziger Anlass, ein Sitzplatz in einem Bus, löste eine gewaltige Menschenrechtsbewegung aus: Am 1. Dezember 1955 verhaftete die Polizei von Montgomery, Alabama (USA), Rosa Parks, weil sie sich geweigert hatte, ihren Sitzplatz einem Weißen freizumachen. Ihre Inhaftierung führte zu einem 381 Tage dauernden Busboykott. Damals hatten im Süden der USA lebende Afro-Amerikaner nicht die gleichen Rechte, durften nicht dieselben Schulen, Restaurants oder Theater besuchen wie die Weißen. 

Ein junger Priester, Martin Luther King, organisierte daraufhin friedliche Proteste. Sein großes Vorbild war Mahatma Gandhi.  Afro-Amerikaner gingen in Weißen vorbehaltene Restaurants und saßen lang dort. Niemand bediente sie, in der Regel kam die Polizei und arretierte sie. 1956 war ein erster Erfolg zu verzeichnen: Die Rassenschranke in den öffentlichen Verkehrsmitteln von Montgomery wurde aufgehoben.

1963 organisierte Martin Luther King einen Marsch nach Washington, an dem 200.00 Schwarze und Weiße teilnahmen. Er hielt seine berühmte Ansprache I have a dream … Die Kraft einer realistischen Vision hatte ihn stark gemacht.

PAPST FRANZISKUS

Ein Beispiel mag für das Versöhnungstalent von Papst Franziskus genügen: So gelang es ihm, die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den USA und Kuba einzufädeln, die seit 1959 abgebrochen waren.
> mehr über Franziskus, die Wirtschaft, Umwelt und Frieden

Politiker

Damit sind Personen gemeint, die bedeutende politische Funktionen innehatten und in diesen ihre Inspiration, ihre Friedensvision verwirklichten.

DER GRÖSSTE FRIEDENSERFOLG der Geschichte nach dem Schuman-Plan von 1950     

Die Anfänge der Europäischen Union gehen auf die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg zurück. Es sollte nie wieder Krieg und Zerstörung in Europa geben. Dazu legte der französische Außenminister Robert Schuman am 9. Mai 1950 einen Plan für eine engere Zusammenarbeit vor. (Der 9. Mai wurde später zum „Europatag“ erklärt.) Auf Grundlage des Schuman-Plans vereinbarten Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande, ihre Kohle- und Stahlindustrie unter gemeinsame Verwaltung zu stellen und nicht länger zu Kriegszwecken gegeneinander zu nutzen. Es wurde die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die „Montanunion“, gegründet.

Aufgrund ihres Erfolgs weiteten die sechs Mitgliedsstaaten ihre Zusammenarbeit auf andere Wirtschaftsbereiche aus. Sie unterzeichneten 1957 den Vertrag von Rom und gründeten damit die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), auch „Gemeinsamer Markt“ genannt, mit der Freizügigkeit von Personen, Kapital, Waren und Dienstleistungen.

Ein großer EU-Vordenker, Jean Monnet, hat jedoch schon in den 1950er Jahren erklärt, dass Europa nicht nur eine wirtschaftliche, sondern eine politische und damit auch eine moralische Vision sei und … wir mit der Kultur beginnen sollten. Das ist mit der deutsch-französischen Völkerverständigung gelungen. Die beiden Erzfeinde Europas haben dauerhaft zueinander gefunden – ein großartiges historisches Versöhnungsbeispiel! Nicht minder historisch ist der Umstand, dass es seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften, also seit 70 Jahren auf ihrem Territorium keinen Krieg mehr gab.

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EINER FÜR ALLE – Der Kniefall eines Kanzlers

Am 7. Dezember 1970 reiste der deutsche Kanzler Willy Brandt mit seinem Außenminister nach Warschau, um dort einen deutsch-polnischen Vertrag zu unterzeichnen. Die deutsche Delegation erwies den jüdischen Opfern des Warschauer Ghettos ihre Reverenz. Da entschloss sich der Kanzler spontan, vor dem Mahnmal für die Opfer des Ghettoaufstands niederzuknien. Dass gerade er, der in der Zeit des „Dritten Reiches“ selbst Verfolgter, nicht Täter gewesen ist, das tat, verlieh dem Kniefall sein besonderes Gewicht. Als Rut Brandt, seine Ehefrau, ihn nach der Rückkehr aus Polen fragte, ob es sich dabei um eine spontane Geste gehandelt habe, zuckte er die Schultern und sagte: Irgend etwas musste man tun. Nicht ambitiös, nicht berechnend und eben deshalb authentisch. Genau das haben die Menschen damals gespürt, und es erklärt, warum sich bis heute kein zweites Bild so sehr mit Willy Brandt verbindet wie dieses – ein Zeichen gelungener Völkerversöhnung!

ÖSTERREICHISCHER STAATSVERTRAG  – freiwilliger Rückzug der sowjetischen Besatzungsmacht

Das war ein absolut einmaliger Fall. Beharrliche Hoffnung ließ unsere Staatsvertragsverhandler, ob Figl, Kreisky, Raab u. a., 258 Verhandlungsrunden, die am „Njet“ der Sowjets scheiterten, durchstehen, bis die 259. den Durchbruch brachte und 1955 das befreiende „Österreich ist frei!“ vom Balkon des Belvedere gerufen werden konnte. Durchhaltevermögen und Geschick des österreichischen Verhandlungsteams trugen wesentlich dazu bei; auf der anderen Seite war es das aufgekommene sowjetische Interesse, zwischen den Machtblöcken des Kalten Kriegs ein neutrales Land als Puffer zu haben.

Formen kollektiven Lernens

PHILIPPINEN

Die beherrschte Kraft eines geeinten Volkes (people power)[1]  bewirkte 1984 den friedlichen Abgang des Diktators Marcos.  

Zur Vorgeschichte: 1965 gewann der nationalistische Kandidat Ferdinand Marcos die Wahlen, der 1969 wiedergewählt wurde. Da eine dritte Amtsperiode nicht erlaubt war, dekretierte er unter dem Vorwand sozialer Unruhen den Ausnahmezustand und blieb so weiter an der Macht, wofür er die volle Unterstützung der USA genoss. Die katholische Kirche des Landes stellte sich auf die Seite des Volkes und begann mit der systematischen Schulung in aktiver Gewaltlosigkeit. Dafür wurde 1984 aus Österreich das Ehepaar Hildegard und Jean Goss-Mayr, das als Vorsitzende des internationalen Versöhnungsbundes schon viel Erfahrung mit der Vermittlung gewaltfreier Methoden des Widerstands und des gewaltfreien Befreiungskampfes gesammelt hatte, vom Kardinal von Manila auf den Inselstaat gerufen. Ihre Überzeugung war: Ist das Übel systematisch organisiert, so muss es auch der Kampf um seine Überwindung sein. Die Wahlen von 1986 gewann Cory Aquino. Das Ergebnis wurde jedoch gefälscht, da kam es zur Konfrontation: Die katholische Kirche konnte mit ihrer Infrastruktur, ihren Radiosendern, Pfarren usw. zwei Millionen Philippinos bewegen, zum Präsidentenpalast, der von gefechtsbereiten Panzern umgeben war, zu marschieren, Blumen und Kreuze in Händen. Als sich dann die erste Panzerluke öffnete und weitere folgten, war die Entscheidung gefallen. Die beherrschte Kraft eines zuvor geeinten und auf Gewaltlosigkeit eingeschworenen Volkes (people power) hatte den Sieg davongetragen, Marcos verließ das Land. – Ein politischer Sieg wurde ohne Blutvergießen errungen.

Es fehlte aber die zweite, die soziale Revolution, wie Hildegard und Jean Goss-Mayr durchaus selbstkritisch anmerken: Weder gesellschaftliche Egoismen noch das von den USA dominierte Wirtschaftssystem konnten in der kurzen Zeit, welche die volle Konzentration auf die politischen Verhältnisse forderte,  überwunden werden.

GEWERKSCHAFTEN – Das scheinbar Unmögliche

Für das erfolgreiche, friedliche Wirken von Gewerkschaften möge ein Beispiel für unzählige stehen:
Solidarnosc bewirkte ohne Blutvergießen das Ende der größten Partei- und Militärdiktatur der Geschichte.                              

Den Anfang vom Ende des Sowjetimperiums läutete 1980 die Entstehung der ersten freien Gewerkschaft im damaligen Ostblock ein. Sie musste das im Folgejahr ausgerufene Kriegsrecht durchstehen, bevor sie 1989 entscheidend an der Wende mitwirken konnte. Freilich war die Hochphase gesellschaftlicher Solidarität nicht von Dauer, sondern wurde durch den Einfall eines ungezügelten Kapitalismus mit all seinen Verlockungen unterlaufen. Auch dieses Beispiel demonstriert die Anfälligkeit bloß staatsbürgerlicher Verbesserungen, die in einer Ausnahmesituation möglich werden. Neuerdings erhebt sich in Polen wiederum Nationalismus.

TUNESIEN – Jasminrevolution

Auslöser der sog. Jasminrevolution war die Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Bouazizi am 17. Dezember 2010, Massenproteste im Gefolge, und am 14. Jänner 2011 verließ der Langzeitdiktator Ben Ali das Land, drei Tage später kam es zur Bildung einer Übergangsregierung.

Eine Zeichenhandlung stand am Anfang, um die Aussichtslosigkeit der Jugend zu demonstrieren; ein Funke genügte, ein morschen Gebälk in Windeseile zum Einsturz zu bringen und so Platz für Neues und Besseres zu machen. Entscheidend für das Gelingen war der nachfolgende Lernprozess der Parteien, der 2014 in eine demokratische, säkulare Verfassung mündete. Allseitiger Wille zum Kompromiss und zum Konsens war die Voraussetzung dafür. Begleitet würde dieser Prozess vom sog. „Dialogquartett“, bestehend aus Arbeitgeberverband, Gewerkschaftsbund, Menschenrechtsliga und Anwaltskammer. Dessen Verdienste wurden 2015 mit dem Friedensnobelpreis gewürdigt.

Auch dieses Beispiel zeigt, ein friedlicher politischer Wechsel zur Demokratie ist möglich; freilich sind damit die wirtschaftlichen Probleme, Stichwort Massenarbeitslosigkeit, noch nicht gelöst.   

Systemänderungen

 

EIN BLEIBENDES VERMÄCHTNIS – Der arbeitsfreie Sonntag

Nachdem das Christentum aufgrund des Toleranzedikts von Kaiser Konstantin 313 nicht mehr verfolgt wurde, sondern neben den Staatskulten und dem Judentum eine erlaubte Religion (religio licita) war, setzten die Christen im römischen Reich u. a. die sofortige Abschaffung der Gladiatorenkämpfe und ein Verbot von Kindesaussetzungen durch. 321 gelang es ihnen, dass durch kaiserlichen Erlass der arbeitsfreie Sonntag für alle (!) eingeführt wurde – ein humaner Fortschritt, der trotz aller Widerstände und Anfeindungen bis heute weiterbesteht.

EUROPAS KULTURELLE RETTUNG

476 ging mit dem Sturz des Kaisers das Weströmische Reich im Zug der Völkerwanderung unter. Dass es trotzdem nicht zu einem Verschwinden der antiken Kultur kam, dafür ist ein anderes Datum entscheidend: 529 schloss in Athen die platonische Akademie ihre Pforten, was das äußerliche Ende der direkten Tradition der klassischen griechischen Philosophie markiert. Im selben Jahr gründete der hl. Benedikt auf dem Monte Cassino sein erstes Kloster, das bis heute besteht – die Geburtsstunde des europäischen Mönchtums. Aufgabe und stilles Erfolgsrezept seiner Mönche wird in die Formel gefasst: Ora et labora et lege! Bete, arbeite, studiere! Dafür stehen die drei Symbole: Kreuz, Pflug und Buch. Die klösterlichen Schreibstuben übernahmen die Aufgabe der Tradierung der antiken Werke, die sonst verlorengegangen wären.

Dazu kam die stabilisierende Wirkung einer weiteren Ordensregel, der stabilitas loci. Damit verpflichteten sich die Mönche, auf Lebenszeit in ein und demselben Kloster zu bleiben. So konnten über Jahrhunderte und bis heute die Klöster kulturelle und soziale Zentren bleiben. 

„HEILIGES EXPERIMENT“ – Der Jesuitenstaat

Im 17. und 18. Jh. gelang den Jesuiten in Paraguay Folgendes: Es wurde dieses Gebiet, das wegen fehlender Bodenschätze, ungesunden Klimas und schlechter Verkehrsbedingungen von den Kolonisatoren gemieden wurde, vom spanischen König zum reinen Missionsgebiet erklärt. Als solches durften es die Jesuiten gegenüber der Außenwelt abschirmen und gründeten Eingeborenensiedlungen. Aus diesen 31 „Reduktionen“ mit etwa 140.000 Indios entstand ein einzigartiger „Jesuitenstaat“, der von 1609 bis 1756 bestand.

Jede Reduktion wurde von zwei Jesuiten geleitet, einem Priester und einem handwerklich ausgebildeten Laienbruder, und bildete eine autonome Stadtrepublik mit einem Magistrat. Alle öffentlichen Ämter wie Bürgermeister, Richter, Polizisten usw. wurden durch Wahl von Indios besetzt und ehrenamtlich ausgeübt.

Das Land war in Familienland und Gottesland aufgeteilt; letzteres wurde gemeinsam bewirtschaftet. Der Binnenhandel erfolgte durch Tausch. Nahrung und Kleider wurden nach Bedarf zugeteilt, das Geld war abgeschafft. Es war nur für den Handel mit der übrigen Welt nötig. Dieser durfte allein in Anwesenheit eines Jesuiten erfolgen, um die Eingeborenen vor Übervorteilung zu schützen. Die Exporterlöse aus der gemeinsamen Bewirtschaftung waren beträchtlich und wurden zu einem Drittel für die Steuern an die spanische Krone verwendet, zu einem weiteren für Kirchen und Schulen und drittens für Soziales (Witwen und Waisen, Alte, Kranke und solche, die keinen Privatacker besaßen).

Die Patres führten den achtstündigen Arbeitstag und – unter Einrechnung der zahlreichen Feiertage – die Fünftagewoche ein, ebenso die Einehe mit freier Gattenwahl. Die Todesstrafe war im Jesuitenstaat – damals als einzigem Land der Welt – verboten! Es gab übrigens kaum Eigentums- und Sexualdelikte. Im ganzen Land war nur die Eingeborenensprache zugelassen. Die Musik, die die Indios überaus liebten, wurde ganz besonders gepflegt. So zogen Musiker mit aufs Feld und spielten während der Arbeit auf.

150 Jahre bestand dieses „heilige Experiment“, bevor es brutal vernichtet wurde: Die Reduktionen wurden aufgelöst, die Indios versklavt oder niedergemetzelt, die Jesuiten verhaftet und deportiert. Schließlich wurde der Jesuitenorden, der den Mächtigen so sehr ein Dorn im Auge war,  sogar vom Papst 1773 aufgehoben!  Fritz Hochwälder schrieb ein Drama über dieses „heilige Experiment“. 

Arten des Fortschritts

Wenn von Verbesserungen im Großen die Rede ist, welche Arten des Fortschritts sind dann gemeint?

Nicht gemeint ist:

a) Technischer Fortschritt
Dieser ist evident, hat aber zwei Seiten, eine positive wie etwa die Fortentwicklung der Medizin sowie eine negative wie beispielsweise die Perfektionierung der Waffentechnik. Solcherart Technisch-Praktisches ist nicht unser Thema.

b) Moralisch-ethische Besserung des Einzelnen bzw. vieler
Diese Dimension ist nicht unmittelbar unser Thema. An sich zu arbeiten ist jederzeit und von jedem gefordert. Was das je subjektive Motiv dabei anlangt, so kann dieses äußerlich nicht, jedenfalls nicht hundertprozentig eindeutig festgestellt werden. Wohl können die Resultate von Handlungen objektiv nach ethischen Maßstäben beurteilt, aber keine allgemeingültigen Aussagen über deren Einhaltung gemacht werden. Wie es objektiv gute Handlungen gibt (z. B. anderen in ihrer Not zu helfen) gibt, so gibt es gegenteilige (Verweigerung der gebotenen Hilfe). Es bleibt Pflicht des Menschen, beständig an seiner moralisch-ethischen Besserung zu arbeiten, und zwar individuell wie in Gemeinschaft. Was für den Einzelnen gilt, gilt ebenso für mehrere, kleine wie große Gemeinschaften, eine Gesellschaft.

Unser eigentliches Thema ist der

c) Fortschritt des normativen Rechtsbewusstseins:
Nehmen wir den Kannibalismus als Beispiel: Er ist heutzutage generell geächtet, was vor Jahrtausenden nicht der Fall war. Wir erachten das als einen humanen Fortschritt im Rechtsbewusstsein, der auch normativ wirksam, also nicht nur ein ohnmächtiges Sollen, sondern praktisch wirksam ist.

Immer wieder Gewalt! – Gibt es im Großen einen Fortschritt zum Besseren?

Was, wenn Gewalt im Spiel ist oder sogar vorherrscht? Ist da überhaupt ein Fortschritt möglich?

Die Vielzahl gegenwärtiger Krisen macht die Frage von Neuem unvermeidlich. Der Augenschein drängt, die Fortschrittsfrage zu verneinen. Möglicherweise wird dabei aber Wesentliches übersehen, das in die andere Richtung weist. Geschichtsphilosophische Einsichten können da weiterhelfen: 

  • Das Böse zerstört sich selbst (nach ARISTOTELES „Politik“)
  • Innere Zwietracht des Bösen und der Antagonismus der Egoismen (KANT)
  • List der Vernunft (HEGEL „Geschichtsphilosophie“) 

KANT „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784).

Kant sieht eine im Verlauf der Geschichte wirkende Dynamik, die aus Folgendem entspringt:
Der Mensch hat den Hang, in Gesellschaft zu treten. Zugleich aber ist dieser mit einem durchgängigen Widerstand, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden … Der Mensch hat eine Neigung sich zu  vergesellschaften. weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, d. i. die Entwicklung seiner Naturanlagen, fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang, sich zu vereinzeln (isolieren) . Wer von uns kennt diese entgegengesetzten, ja widerstreitenden Tendenzen nicht?  Diese Eigenart der menschlichen Natur nennt er den Antagonismus der ungeselligen Geselligkeit der Menschen.

Dieser Widerstreit setzt eine Dynamik menschlichen Fortschritts wider Willen in Gang, die zu immer höheren Gesellschaftsformen treibt, welche in die Herrschaft des Rechts münden. Dabei unterscheidet KANT drei epochale Entwicklungsstufen:

  1. Staatsrecht
  2. Völkerrecht
  3. Weltbürgerrecht

Aus dem ursprünglichen Kampf aller gegen alle und der allseitigen Not der Anarchie wächst die Einsicht, das menschlicher Miteinander zu regulieren; das führt schließlich zum Staatsrecht und der Herrschaft des Rechts; das Verhältnis der Staaten untereinander bleibt aber dabei ständig von Kriegen bedroht; deshalb wird zum Völkerrecht fortgeschritten, welches in das Weltbürgerrecht mündet; darin werden Freiheit und Gleichheit aller Menschen als allgemeingültige Vernunftprinzipien anerkannt.

Nehmen wir als Beispiel das Thema Vergeltung in der Bibel, anhand dessen sich ebenfalls eine solche Entwicklungslinie ablesen lässt: Die grenzenlose Blutrache wurde durch die Regel Aug um Aug, Zahn um Zahn (Exodus 21,25) auf das Maß der Verhältnismäßigkeit begrenzt (wobei kein konkreter Fall dafür überliefert ist). Grundsätzlich überwunden ist die Gewaltanwendung aber damit noch nicht. Das geschieht erst im Neuen Testament etwa durch die Weisung des Apostels Paulus: Besiege das Böse durch das Gute! (Römerbrief 12,21). Damit ist der Vergeltungsverzicht wie auch in der Bergpredigt (Mt 5,38) ausgesprochen: aus der Gewaltlogik gänzlich aussteigen und diese durch ein Übermaß des Guten überbieten.

Der rote Fortschrittsfaden der Geschichte wird freilich nach KANT nicht allein wider Willen, sondern vielmehr durch das Anstreben des Guten, ja des Besseren geknüpft. Die genannte Dynamik ist für ihn lediglich ein Umweg, ein Notvehikel, mithilfe dessen die Vernunft sich gleichsam hinter dem Rücken (selbstsüchtiger) Akteure durchzusetzen vermag. HEGEL nennt das die List der Vernunft.

Was aber ist nun Zweck und Ziel der Geschichte insgesamt?

Humanität ist der Zweck der Menschennatur, so formuliert Johann Gottfried HERDER 1787 im 15. Buch seiner „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ zugleich mit folgender Begründung: Der Zweck … [der menschlichen Person], die nicht bloß ein totes Mittel ist, muss in ihr selbst liegen.

Daraus folgt als Entwicklungslinie der Menschheitsgeschichte der Fortschritt im normativen Bewusstsein der Humanität 

  • Nicht bloßes Wunschdenken, keine Utopie
  • Nicht die Behauptung realer allseitiger Besserung noch immerwährender Mehrheiten
  • Vielmehr ein Fortrücken in der Kultur, … das zwar bisweilen unterbrochen, aber nie abgebrochen wurde. Wiewohl historisch nur weniges hinsichtlich eines Fortschritts zum Besseren feststellbar ist, so ist schon das Wenige zuverlässig genug, … möge das Ziel oft auch nur sehr von Weitem erkennbar sein. (Kant)
  • Zugleich werden angesichts des größeren Humanen das Unrecht des bösen Zuwiderhandelns und seine realen Möglichkeiten wie z. B. der Kriegsführung umso größer.
  • Verbindliches weltweites Recht (in Ansätzen) schon vorhanden etwa durch die Gründung der UNO, die Kodifizierung der Menschenrechte …
  • Ziel und Handlungsimperativ: universale, ganzheitliche Humanität auf der Höhe der Zeit

Im Gegensatz dazu: negative Elemente / Zeitdiagnose

Papst FRANZISKUS sagt: Es herrscht ein Dritter Weltkrieg, den die Menschheit gegen sich führt … Wir stecken mitten in einem dritten Weltkrieg, einem Krieg auf Raten[2]. Dieser wird in Etappen, abschnittsweise oder punktuell geführt, gespeist von der Grausamkeit derer, die in der Anonymität ihrer sozioökonomischen Entscheidungen eine unsichtbare Tyrannei ausüben etwa durch Freihandelsabkommen und Sparzwänge[3].

Diese Wirtschaft grenzt aus bis hin zum Auswurf von menschlichem Abfall; sie unterdrückt, beutet aus, sie tötet.[4]   Woher und warum all diese Scheußlichkeiten? Dieses Wirtschaftssystem ist an der Wurzel ungerecht.[5] Die Probleme der Flüchtlinge und der Armen … [können aber nur] von der Wurzel her gelöst werden, indem man auf die absolute Autonomie der Märkte und der Finanzspekulation verzichtet und die strukturellen Ursachen der Ungleichverteilung der Einkünfte in Angriff nimmt … Die Ungleichverteilung der Einkünfte ist die Wurzel der sozialen Übel.[6] – Dieses System ist nicht mehr hinzunehmen[7]

Direkt gewolltes Positives und/oder die Dynamik menschlichen Fortschritts wider Willen

Während Samuel HUNTINGTON einen „Kampf der Kulturen“ heraufziehen sieht, arbeitet  Hans KÜNG in seinem „Projekt Weltethos“ eine gemeinsame globale Ethik heraus. Ein wesentliches Element ist die goldene Regel. Sie findet sich auch in allen Weltreligionen und lässt sich in doppelter Weise ausdrücken, und zwar in negativer Version: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu! (Wilhelm BUSCH); in bejahender Fassung: Was ihr von anderen erwartet, das tut zuerst ihnen! (Vergl. Matthäusevangelium 7,12)

KANT formuliert die menschliche Grundverpflichtung als kategorischer Imperativ in dreifacher Weise:

  • Handle so, dass die Maxime deiner Handlung zugleich allgemeines Gesetz sein könnte.
  • Handle so, dass die Maxime deiner Handlung allgemeines Naturgesetz werden könnte.
  • Handle so, dass du jeden anderen zugleich als Selbstzweck achtest.

Weg vom Blick (277) mit Maulwurfsaugen, die nur Erde sehen, hin zu einem Blick mit Augen, welche einem Wesen zu Teil geworden, das aufrecht zu stehen und den Himmel anzuschauen gemacht war! dazu fordert KANT uns in seiner geschichtsphilosophischen Schrift auf. Friedrich HÖLDERLIN nennt dafür einen Hoffnungsgrund: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. („Patmos“)

Literatur

[1]    Goss-Mayr, Hildegard: Wie Feinde Freunde werden, Herder 1996, 169ff.
[2]    Ansprache vor den Teilnehmern am Welttreffen der sozialen Bewegungen, Rom, 28. 10. 2014; online: www.itpol.de/?p=1491
[3]    Predigt in Lampedusa, 8. 7. 2013
[4]    Evangelii Gaudium, 53.; Sozialpolitische Grundsatzrede beim Encuentro Mundial de Movimentos Populares in Bolivien, 10. 7. 2015
[5]    Evangelii Gaudium, 59.
[6]    Ebd., 202.
[7]    Sozialpolitische Grundsatzrede …