MIGRATION. BILDUNG. FRIEDEN.

Was ist und was sein kann: Hegemoniale Konfliktdiskurse und Gegennarrative für ein ‚Gutes Leben für alle‘

Von Bettina Gruber
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Grafiken: Von A wie Arbeit bis Z wie Zukunft – Arbeiten & Wirtschaften in der Klimkrise, I.L.A. Kollektiv & Periskop (Hrsg.)
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Weder die Finanzkrise von 2008, noch die Hungerkrisen, die ein Ausdruck der nicht gelingenden Umsetzung der Milleniumsentwicklungsziele sind und auch nicht die Tatsache, dass Millionen von Menschen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, haben bislang zu einem breiten Aufbegehren gegen das Bestehende geführt. Heute sind schätzungsweise 65,5 Millionen Menschen auf der Flucht, mehr als die Hälfte von ihnen sind Kinder (UNHCR 2017). Auch droht ein Klimawandel mit katastrophalen Auswirkungen, wenn die Weltgesellschaft nicht einsieht, sofort konzertiert handeln zu müssen. Ein großer Teil der heutigen Fluchtgründe hat bereits mit dem Klimawandel und dessen Auswirkungen zu tun. Es stellt sich hier die Frage, ob der fehlende Widerstand an einem Mangel an Utopie liegt. Diese Frage ist keine irrelevante. Auszugehen ist davon, dass es keinen Mangel an utopischem Denken gibt und auch nicht an fehlenden Alternativen – hier liegen Vorschläge und Konzepte seitens der Wissenschaft und Politik und (Zivil-)Gesellschaft vor. Der Politologe Michael Hirsch formuliert, worum es geht:
„Es reicht nicht mehr aus, weiterhin die bekannten Befunde von wachsender Armut, sozialer Ungleichheit, Entdemokratisierung, wachsender Demokratieverdrossenheit, Rechtspopulismus, fortschreitender Umweltzerstörung bzw. Verwilderung von Arbeitsverhältnissen aufzuzählen und zu analysieren. Es gibt hier keine großen Wissensprobleme, keinen Mangel an kritischem Bewusstsein. Woran es mangelt, das ist zum einen ein zusammenhängendes Bild dieser Einzelphänomene – zum anderen das Bild einer anderen möglichen Gesellschaftsform, einer anderen möglichen Zukunft . Es wäre das Bild eines besseren Lebens“ (Hirsch 2016: 9).

Anschließend an diese Ausführungen stellt sich die Frage, wie Entwicklungen und Bewegungen aussehen könnten, die dieses „zusammenhängende Bild“ ermöglichen könnten bzw. was die Hauptwiderstände und Konflikte sind, die alternative Konzepte
und Wege verhindern. In diesem Beitrag wird entsprechend darauf eingegangen, wie aktuelle Krisen in hegemonialen Diskursen gerahmt werden, um dann anschließend die Notwendigkeit der Etablierung neuer Narrative zu beschreiben, wobei Protest, Widerstand, Teilhabe und Solidarität als wesentliche Schlüsselfaktoren, die eine Entwicklung in Richtung ‚Gutes Leben für alle‘, einleiten können, gesehen werden.

(Foto „Solidarität“ (C)Perry Grone, unsplash)

1. Hegemoniale Krisendiskurse

Wenn wir derzeit die weltpolitische Lage betrachten, so können Krisen bzw. Krisenverstärker ausgemacht werden. Dazu zählen Krankheiten wie Ebola, Kriege – u.a. in der Ukraine, in Syrien oder im Iran – (islamistischer) Terror oder neue Wärmerekorde im Erdsystem. In Europa weisen krisenhafte Entwicklungen eher auf Desintegration denn auf Integration hin (Messner 2016: 1).

Grafik: Vermögensverteilung in Österreich (basierend auf Ferschil et al. 2017, Anhang II)

 Zu nennen sind mehrere Krisen/Krisenverstärker/Konfliktlinien – die globale Finanzkrise seit 2008 (daraus folgend eine Euro und EU-Krise), wie schon erwähnt, Kriege im Nahen und Mittleren Osten, Kriege und Hungersnöte im Südsudan, Nigeria, Jemen, zunehmende Armut sowie Ungleichheit, wie etwa die Oxfam Studie für das Jahr 2016 festhält: Die acht reichsten Menschen der Welt verfügen über Besitztümer im Gesamtwert von 426 Milliarden Dollar, während die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, 3,6 Milliarden Menschen, gemeinsam lediglich 409 Milliarden Dollar hat (Oxfam Deutschland 2017). Im Weiteren sind Klimawandel und Erderwärmung zu nennen. Internationale autoritäre Nationalisten sind im Aufmarsch, Xenophoben, Zäunebauer und rechte Bewegungen dominieren weltweit die aktuelle Politik; mehr denn je sind Menschen aufgrund dieser Krisen auf der Flucht. Diese genannten Krisenphänomene werden hier und auch im Kontext hegemonialer Diskurse im Aufzählungsverfahren hintereinander genannt, hängen jedoch zusammen und bedingen sich gegenseitig. Eingebettet sind diese in Entwicklungen im Korsett der neoliberalen Entwicklungen in einer zunehmend globalisierten Welt und des ungezähmten Kapitalismus – nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 immer weiter entfesselt, bis heute.

Welche Bedeutung haben nun (hegemoniale) Diskurse? Will man sich Foucaults Diskursbegriff nähern, kann die Bedeutung von Wissen und Macht, als einem aufeinander verweisenden Komplex, nicht außer Acht gelassen werden. „Diskurse üben als ‚Träger‘ von jeweils gültigem ‚Wissen‘ Macht aus; sie sind selbst ein Machtfaktor, indem sie Verhalten und (andere) Diskurse induzieren“ (Jäger 2011: 97). „Diskurse erscheinen bei Foucault als symbolische Ordnungen, die sich zwischen die fundamentalen Codes einer Kultur, die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchien ihrer Praktiken beherrschen, und wissenschaftliche Theorien und Erklärungen schieben“ (Bublitz 1998: 12).

Diese hegemonialen Diskurse finden sich nun in Alltagsgesprächen, im Gesagten der politischen RepräsentantInnen, sie werden durch die Medien reproduziert, sind aktuell oder historisch und werden weitererzählt, sind als Wissen/Wahrheit in unser gesamtes Dasein eingeschrieben. Diskurse schaffen Wahrheit und gesellschaftliche Realität. Sie schreiben sich in Wissenschaft / Erkenntnis / Gesellschaft / Lebensalltag / Sprache ein. Als Beispiele können hier Märchen, Mythen, Denkmäler, mediale Aufbereitungen, Schulbücher sowie Wissensvermittlung genannt werden. Sie prägen Wissensordnungen und
Wissensregime.

Hier sind zum Beispiel Diskurse über ‚Wir‘ (den Westen) und die ‚Anderen‘ (Zweite Welt, Dritte Welt, Globaler Süden) zu nennen oder Negativ- und Defizitperspektive auf Migration. MigrantInnen werden als störend empfunden. Wir nehmen sie in Verbindung mit Armut war, als bedrohend, fremd, kriminell. Sie werden als Fremde, als ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘, als eigentlich nicht zugehörig, konstruiert (Mecheril 2010: 8). Die Migration und die Auseinandersetzung mit Migration ist ein Teil dieses gesamten Ganzen und ist Gegenstand politischer Auseinandersetzungen und Diskurse unserer Gesellschaft . Paul Mecheril meint hier: „der Diskursbegriff ist […] von besonderer Bedeutung, weil ‚Migration‘ sich nicht einfach naturwüchsig ereignet. Phänomene der Überschreitung von Grenzen werden vielmehr erst durch Diskurse, die hier als das Soziale hervorbringende Wissens- und Aussagesysteme gekennzeichnet werden können, politisch, wissenschaftlich, künstlerisch, pädagogisch, alltagsweltlich als Flucht, Mobilität oder als Migration hervorgebracht […]. Allgemein bezeichnet der Begriff den ‚Fluss von Wissen‘ über etwas. In Diskursen fließt Wissen über einen Gegenstand. So gibt es etwa Diskurse über Flucht, […] über europäische Werte, über Armutsmigration und soziale Ungleichheit […] über die Frage, welche Migrant/innen willkommen und welche gefährlich sind. Der Gegenstand eines Diskurses wird im und vom Diskurs erst hervorgebracht.
Das diskursive Wissen ist eines, das soziale Wirklichkeit schafft “ (Mecheril 2016: 10)

Denken wir hier nur an den aktuellen Kampf und die vielfache Diskreditierung von FluchthelferInnen aus den Krisengebieten des Mittleren Ostens und aus Afrika. Hier findet sich kaum differenzierte Berichterstattung, bezogen auf jene, die Flüchtlinge ohne eigenen Vorteil unterstützen und jene, die sich finanzielle Vorteile versprechen und verbrecherisch handeln. Die VertreterInnen von NGOs, die sich aktuell im Mittelmeer aufhalten, um Menschen vor dem Ertrinken zu retten, werden medial in ihrem Einsatz diskreditiert und verunglimpft. Oder ziehen wir den Begriff ‚Gutmensch‘ heran. Es fand hier in den letzten Jahrzehnten bei Politik und Medien eine Bedeutungsumkehr statt. Er steht heute für Naivität und Weltfremdheit des linken Gesinnungsspektrums. Gemeint sind in der überwiegenden Mehrheit Menschen, die sich im Rahmen von einschlägigen Organisationen oder als Einzelpersonen politisch aktiv für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen, dies aktiv artikulieren, in diesem Sinn auch handeln und im Kontext der Migration darauf hinweisen, dass wir als Gesellschaft nicht zusehen können, wie an den Außengrenzen Europas die Menschen auf der Flucht umkommen oder in unzumutbaren Flüchtlingslagern ihr Dasein fristen. In der permanenten Wiederholung dieser Zuschreibungen werden im Sinne Foucaults Wissensordnungen und -regime geschaffen, die hartnäckig einen entsprechenden Blick auf Flucht und Migration manifestieren.

Die zunehmend immer dichter werdenden globalisierten Zusammenhänge, die über die Digitalisierung weiter beschleunigt und verschärft werden (denken wir nur hier an die transnationalen Finanzflüsse, Finanzspekulationen etc.), verdichten die Zusammenhänge von Armut und Reichtum, Wohlstand und Entbehrung, Sicherheit und Unsicherheit, Chancenvielfalt und Aussichtslosigkeit. Flucht und Migration sind Folgen dieser Entwicklungen. Auseinandersetzungen über die Zusammenhänge von Wohlstand und Armut, die Interdependenzen zwischen Westen/Norden und Globalem Süden, die Zusammenhänge
der heutigen Krisen mit Kolonialismus und postkolonialen Fortschreibungen mit den Ursachen der Entwicklung eines islamistischen Terrors, an dem sich junge Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft beteiligen, werden kaum geführt. Ganz im Gegenteil – neoliberale, ethnisch-nationale und Sicherheitsdiskurse beherrschen Politik, Medien und Gesellschaft und geben den Ursachen aktueller Krisen und Konflikte ungenügend Raum. Im Folgenden werden einige der aktuell vorherrschenden Diskurse im Kontext von Flucht und Migration skizziert, um deren Inhalte sichtbar und Ansätze von Gegendiskursen möglich zu machen.

Globale Güterkette bei der Produktion eines SmartPhones.
Grafik aus „Von A wie Arbeit bis Z wie Zukunft“, I.L.A. Kollektiv & Periskop (Hrsg.)
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(Post-)Kolonialer Diskurs

Dieser Diskurs lässt sich an folgenden, sich laufend wiederholenden, Aussagen festmachen: „Wir haben uns in der westlichen Welt unseren Reichtum selbst erworben – deshalb haben wir Anrecht auf unseren Wohlstand.“ „Wir, die VertreterInnen der westlichen Welt, müssen uns an unseren Grenzen schützen, die Anderen wollen ungerechtfertigterweise an unserem Reichtum teilhaben. Ein großer Teil der Flüchtlinge sind keine Kriegsflüchtlinge oder Flüchtlinge auf Grund von politischer Verfolgung – sie sind ‚sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge‘, die zu uns kommen und ein besseres Leben haben wollen.“ Und auch in der Politik finden sich laufend Aussagen, die diesem Diskurs zuzuordnen sind: „Wir dürfen aber keine falschen Hoffnungen wecken, dass man aus wirtschaftlichen Gründen jetzt Afghanistan verlassen und nach Deutschland gehen kann“, meinte etwa Angela Merkel (Die Presse, o. A. 2015).

Ein aktuelles Beispiel aus Österreich im Kontext der Debatte um die Installierung einer Obergrenze für Asylwerbende in Österreich ist die Forderung der Österreichischen Volkspartei (ÖVP): „Heuer beläuft sich diese auf 35.000, sie soll jedoch auf 17.000 reduziert werden, sagte Vizekanzler und Parteiobmann Reinhold Mitterlehner bei einer Pressekonferenz nach der Regierungsteamklausur im steirischen Pöllauberg. Dies sei in etwa das, was wir im Rahmen der Integration vertragen können.“ Er sprach von einer „harschen Ansage“, die aber als „Signal an die Bevölkerung“ zu sehen sei (Kronen Zeitung, o. A. 2017).

Neoliberaler Diskurs und seine Verschränkung mit dem Migrationsdiskurs

Aussagen, die dem neoliberalen Diskurs zuzurechnen sind, sind etwa: „Unsere Gesellschaft wird ihren Wohlstand nur über Wachstum halten können. Eine Gesellschaft ohne Wirtschaftswachstum kann keine prosperierende sein.“  „Wachstumsbegrenzung macht unglücklich.“ „Mehr privat und weniger Staat sind der Ausgangspunkt für zukünftige
Wohlstandentwicklung.“ Auf die Migration bezogen werden dabei jene ZuwandererInnen als positiv und willkommen gesehen, die leistungsstark sind. Asylwerbende werden gerade dann als Problem gesehen, wenn sie als Faktor beurteilt werden, der dem Staat wirtschaftlich nichts einbringt. Stephan Schulmeister meint dazu: „Begreift man den ideologischen Charakter des Neoliberalismus als Gegenaufklärung, Selbstentmündigung und Entmoralisierung und seinen ökonomischen Charakter als Theorie der reichen Leute, dann müsste man allerdings viele, für ewig beschlossene Regelwerke wie den Fiskalpakt außer Kraft setzen“ (Schulmeister 2016: 44). Er betont in seinem Aufsatz ‚Die rechten Verführer‘ den unmittelbaren Zusammenhang des Neoliberalismus mit dem Aufstieg der rechten Bewegungen/Parteien, wie wir ihn heute wahrnehmen.

Ein nach dem Fall der Mauer 1989 entgrenzter Turbokapitalismus, der keinen Widerpart mehr hat, wurde nicht von den Konservativen Parteien in Europa aber vor allem nicht von den Sozialdemokraten Einhalt geboten, die sich dem Zeitgeist anpassten. Die von den Traditionsparteien mitgetragene Politik der Senkung von Löhnen, Arbeitslosengeldern und sonstigen Sozialausgaben der Lockerung des Arbeitnehmerschutzes und der Ausweitung prekärer Jobs ließ die Unzufriedenheit ansteigen, nach dem Aktiencrash 2000 und der Finanzkrise 2008, beides Folgen neoliberaler Deregulierungen. Diese ‚Reformen‘ hatten die Traditionsparteien 30 Jahre gestützt – auf diese Weise überließen sie die Empörung über den Finanzkapitalismus den neuen Verführern von rechts (Schulmeister 2016: 42).

Gegendiskurse müssen die großen globalen Zusammenhänge sichtbar machen, die historischen Zusammenhänge beleuchten und vor allem Kolonialismus und Postkolonialismus thematisieren. „Es geht um die andere Seite der westlichen Moderne, um ihr ‚dunkles Gesicht‘, um ihre Verankerung in den Strukturen und Mechanismen kolonialer Herrschaft über den Rest der Welt. Es geht um Reichtumsproduktion auf Kosten und um Wohlstandsgenuss zu Lasten anderer, um die Auslagerung der Kosten und Lasten des Fortschritts. Und es geht um ebendiese Doppelgeschichte, und deren Verdrängung aus unserem Bewusstsein, um ihre Tilgung aus den gesellschaftlichen Erzählungen individuellen und kollektiven Erfolgs“ (Lessenich 2016: 17). „‚Wir‘, die Bürgerinnen und Bürger der selbsterklärten ‚westlichen Welt‘, leben in Externalisierungsgesellschaften des globalen Nordens […] und wir leben gut damit. Wir leben gut, weil die anderen schlechter leben“ (ebd.: 25). Diese Hauptausrichtung unterstreicht auch Brand. „Ein Grundmechanismus der imperialen Lebensweise liegt in der Externalisierung ihrer sozial und ökologisch problematischen Voraussetzungen und Konsequenzen. Sie produziert systematisch schlechte Arbeitsbedingungen und Ausbeutung, autoritäre politische und gesellschaftliche Verhältnisse, prekäre Lebensbedingungen und ökologische Zerstörung. Die Aufhebung der Externalisierung ist zweifellos eine der schwierigsten Aufgaben in Hinblick auf eine solidarische Lebensweise“ (Brand/Wissen 2017: 181).

Ethnisch-Nationale Diskurse innerhalb Europas und weltweit

Die Unübersichtlichkeit der Globalisierung und ihrer Auswirkungen bedingen nationale Diskurse – Rückbesinnung auf ‚nationale Lösungen‘ stehen wieder im Zentrum, Antworten können nur innerhalb der jeweiligen Nationalstaaten gelöst werden, das ‚eigene Haus‘ muss geschützt werden, so der vielstimmige Tenor. ‚Wir und die Anderen‘ ist der Slogan, der die Diskurse beherrscht und sich in allen Bereichen der Gesellschaft niederschlägt. Hierzu einige Beispiele: Donald Trump meint es ernst mit seiner Mauer entlang der über 3.000 Kilometer langen Grenze zum Nachbarland Mexiko. Jüngst ordnete er den Bau an. Es müsse Schluss sein mit der „schwachen Grenze“, twittert der US-Präsident (Der Kurier, o. A. 2017). US-Heimatschutzminister John F. Kelly legte nach: „Die Mauer solle binnen zwei Jahren stehen“, sagte er dem US-Sender Fox News. „Es sei nur noch eine Frage von Monaten, bis mit dem Bau begonnen werde“ (ebd.).

Der ungarische Premier Viktor Orbán fand beim Besuch des österreichischen Bundeskanzlers Christian Kern in Budapest deutliche Worte: „Ungarn braucht keinen einzigen Migranten“, sagte er. Und er erteilte einer gemeinsamen europäischen Politik in der Flüchtlingsfrage eine entschiedene Abfuhr: „Wer Migranten braucht, soll sie aufnehmen.“ Aus seiner Sicht sei Migration nicht die Lösung, wie das manche in der EU sehen würden, sondern das Problem. Orbán: „Migration ist Gift . Eine gemeinsame europäische Politik sei daher gar nicht notwendig“ (Völker 2016). Und nochmals Orbán zur Flüchtlingsfrage: „Das Problem ist kein europäisches Problem. Das Problem ist ein deutsches Problem“ (Der Spiegel, o.A. 2015).

(Foto: Zaun gegen Flüchtlinge; Phil Botha , unsplash

Die ‚Flüchtlingskrise‘ ist in vielerlei Hinsicht eine strukturelle Krise, die sich mit der Zunahme von ‚Klimaflüchtlingen‘ noch vervielfältigen wird. Die bloße Abwehr an den nationalen Grenzen stellt keine Lösung dar. Für ein globales System müssen globale Systemfragen gestellt und weltökonomische, weltökologische und weltgesellschaftliche Antworten gefunden werden (Bade 2017: 97). Hinsichtlich der Verschärfung des nationalen Diskurses in den Jahren 2015 und 2016 kann nach Ruth Wodak Integration und Migration in einem Wechsel zwischen totaler Abwehr und Integration durch Leistung im Kontext neoliberaler Versatzstücke charakterisiert werden. MigrantInnen sind erwünscht, sofern sie nachweisbare Leistungen einbringen. Sie weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Diskurs ökonomisiert ist. Es geht hier nicht um die Menschen, die zuwandern, sondern was sie unserer Gesellschaft bringen. Im Zusammenhang damit wird vielfach ein Diskurs über die Integrationsunwilligkeit der MigrantInnen geführt (Wodak 2017: 56). Dies hat nach Mecheril auch im Bereich der Bildung große Bedeutung. Er betont in diesem Zusammenhang:  „Zunächst kann also festgehalten werden, dass für die Migrations-Gesellschaft und ihre Bildungszusammenhänge Zugehörigkeitsunterschiede und Zugehörigkeitsunterscheidungen bedeutsam sind. Wichtig ist, dass diese Unterschiede und Unterscheidungen nicht einfach in ‚natürlicher Weise‘ gegeben sind, sondern politisch, kulturell, juristisch, über Medien und in Interaktionen (etwa zwischen AkteurInnen pädagogischer Zusammenhänge) immer wieder hergestellt werden“ (Mecheril 2010: 13).

Sicherheitsdiskurs – Logik der Sicherheit

Aussagen, die den Sicherheitsdiskurs auf den Punkt bringen, sind etwa: „Wir müssen den Terror besiegen, da wir sonst ein Sicherheitsproblem haben.“ „Wir müssen die Überwachung ausbauen – nur so schaffen wir mehr Sicherheit.“ „Die Flüchtlinge, die zu uns kommen, sind ein Sicherheitsproblem.“ „Wir müssen die Grenzen dicht machen, damit wir den Terror abwehren.“ Der Sicherheitsdiskurs impliziert, dass wir über maximale und flächendeckende Überwachung unser Leben sicher machen können und vielfach auch, dass wir uns im Krieg befinden. Anlässlich der Terroranschläge in Paris im Jahr 2015 äußerte sich der damalige französische Präsident François Hollande wie folgt: „‚Es ist ein Akt der absoluten Barbarei‘, begangen durch ‚eine Armee von Terroristen‘“, erklärte er nach dem Treff en des Nationalen Verteidigungsrats während einer kurzen TV-Ansprache (Simons 2015). „Es ist ein Angriff des ‚Islamischen Staates‘, wir werden gnadenlos reagieren – auf allen Ebenen, in Abstimmung mit unseren Partnern“, so der ehemalige Staatschef (ebd.). Später sagte er direkt, was er meint: „Konfrontiert mit Krieg muss die Nation angemessene Maßnahmen ergreifen“ (ebd.). Als weiteres Beispiel der ehemalige französische Minister Alain Juppé: „Wenn wir ein politisches Europa wollen, das eine starke Botschaft hat und international eine Rolle spielen soll, dann müssen wir zuallererst unsere Grenzen wiederherstellen. Es ist dringend nötig, die derzeitige Situation zu beenden. Wir haben den Organisationen, die den Schengen-Raum schützen, und insbesondere Frontex weder die nötigen finanziellen noch die personellen noch die juristischen Mittel in die Hand gegeben, um diese Aufgabe zu stemmen. Wir dürfen uns nichts vormachen. Wenn wir damit scheitern, unsere äußeren Grenzen zu kontrollieren, Was ist und was sein kann wird jedes Land gezwungen sein, seine eigenen Grenzen wieder aufzubauen. Das wäre ein historischer Rückschritt“ (Meister 2016).

Nach der Schließung der Westbalkanroute möchte der derzeitige österreichische Außenminister Sebastian Kurz nun auch die Flüchtlingsroute über das Mittelmeer schließen: „Die einzige Lösung, um den Schleppern die Geschäftsgrundlage zu entziehen und das Sterben im Mittelmeer zu beenden, ist, wenn man sicherstellt, dass jemand, der sich illegal auf den Weg macht, nicht in Mitteleuropa ankommt“ (Die Welt Online, o. A. 2017). Und ein weiteres Zitat des Außenministers in diesem Zusammenhang: „Spanien zeigt, wie man illegale Migrationsströme gegen Null zu reduziert“. Außenminister Sebastian Kurz sieht hierfür Ungarn als Partner für eine Schließung der Mittelmeerroute. „Australien und Spanien hätten bewiesen, dass es möglich sei, illegale Migrationsströme fast gegen Null zu reduzieren“ (Kleine Zeitung, o. A. 2017).

2. Gegendiskurse und neue Narrative

Hegemoniale Diskurse im Kontext der Politik, Medien, Zivilgesellschaft lassen es fast unmöglich erscheinen, Gegendiskurse in Bewegung zu bringen. Hier sind vor allem die Medien in den Fokus zu rücken. Die Medien können großteils nicht anders berichten als sie es tun. Sie sind Teil des neoliberalen Systems – selbst ehemals kritische, investigative JournalistInnen sind heute in große Medienkonzerne eingebunden und damit TrägerInnen und Teil des neoliberalen Diskurses. Regelmäßig werden ganze Ausgaben von Printmedien von Firmen und Konzernen gekauft, was logischerweise zur Folge hat,
dass die Thematisierung des enthemmten Kapitalismus bzw. Kritik an der globalisierten Wirtschaft nur marginal stattfindet.

Gegendiskurse, die die Auseinandersetzung über die Zusammenhänge zwischen Überentwicklung bei geringer Ungleichheit hier und Unterentwicklung mit extremer Ungleichheit andernorts in den Fokus rücken, sind relevant (Lessenich 2016: 192). Wir
sind gefordert, uns über unsere Externalisierungsgesellschaft auseinandersetzen. Lessenich nennt hier eine effektive Besteuerung weltweiter Finanztransaktionen, den Umbau der reichen Volkswirtschaft en in Postwachstumsökonomien bis hin zu einem globalen Sozialvertrag zur Verzögerung des Klimawandels, transnationale Rechtspolitik, die globale soziale Rechte wirkungsvoll verankert – das bedeutet eine konsequente Politik der doppelten Umverteilung: im nationalstaatlichen wie gesellschaftlichen Maßstab, von oben nach unten und davon innen nach außen (vgl. ebd.: 195). Es geht um ein global egalitäres Reformprojekt. Solange die Kapitallogik nicht systematisch und nachhaltig gebrochen wird, lässt sich Konvivialität nicht leben (Lessenich 2015: 221). Ähnliche Reflexionen führten im Jahr 2014 zur Verfassung des Konvivialistischen Manifests/Manifeste Convivialiste. Ausgangspunkt war eine Diskussion, die 2013 von etwa 40 französischsprachigen  WissenschaftlerInnen und Intellektuellen eingeleitet wurde, in eine ‚Déclaration d‘interdépendance‘ mündete und einen Weg in Richtung gesellschaft licher Debatte in Frankreich eröff net hat. Bezüge wurden hier unter anderem zu Ivan Illichs ‚Tools of Conviviality‘ (1973) hergestellt, um nur einen Vorläufer im Kontext der Zivilisationskritik und politischen Ökologie im Besonderen zu nennen. Das Manifest betont, dass eine andere Welt nicht nur möglich ist, sondern auch absolut notwendig. Die globalen Probleme des Klimawandels, der Armut, der sozialen Ungleichheit oder der Finanzkrise erfordern ein Umdenken und veränderte Formen des Zusammenlebens. Konvivialismus bedeutet das Ausloten von Möglichkeiten, wie jenseits der Wachstumsgesellschaft ein Zusammenleben möglich sein kann, wie Sozialität, Konfl ikt und Individualität aufeinander bezogen werden und wie ökologisch und sozial nachhaltige Formen demokratischen Lebens ausschauen können (Manifeste Convivaliste 2013). Das Manifest wurde auch ins Deutsche übersetzt und erschien unter dem Titel ‚Das konvivialistische
Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens‘ (Adloff /Leggewie 2014). Es trug die Debatte über die Fehlentwicklungen zeitgenössischer Gesellschaft en, die Kapitalismuskritik mit Konzepten für eine Neudefinition von Reichtum und Wohlstand verbindet, in den deutschsprachigen Raum, eine Diskussion, die noch längst nicht an ihr Ende gekommen ist, wie unter anderem der veröffentlichte Band ‚Konvivialismus. Eine Debatte‘ beweist, in dem Lessenichs Beitrag erschienen ist (Adloff /Heins 2015).

Im Mittelpunkt einer neuen emanzipatorischen Erzählung wird ein neuer Gesellschaftsvertrag mit einer neuen Gemeinwohlformel jenseits von Wachstum und Beschäftigung stehen (Hirsch 2016: 1 0). ‚Konviviale Integration‘ bedeutet nach Naika Fouroutan – anlehnend an das Konvivialistische Manifest – dass Integrationskonzepte, die sich regulierend auf heterogene Gesellschaft en beziehen, mit erweiterten, konvivialen Assoziationen verknüpft werden könnten (Foroutan 2015: 211) „Es könnte versucht werden, den Begriff der Integration im konvivialistischen Sinne zu öffnen, um die Essentialisierung kultureller Identitätskonstruktionen, die derzeit mit dem Integrationsbegriff einhergeht, aufzubrechen, Abgrenzungen von Gruppen zueinander beweglich zu machen, zu verschieben und aufzulösen. […] Konviviale Integration lässt sich somit neu definieren als ein gesellschaftsstrukturierendes Leitmotiv, das sich aus den Teilsegmenten Anerkennung, Chancengerechtigkeit, Teilhabe zusammensetzt, mit dem Ziel, Diskriminierung und gesellschaftliche Ungleichheit zu überwinden“ (ebd.). Als entsprechende Maßnahmen werden die Schärfung von Antidiskriminierunsgspolitik zur Stärkung der Anerkennung, gezielte Umverteilungsmaßnahmen zum Abbau von Ungleichheit und zur Gewährleistung von Chancengerechtigkeit und Forderung von Quoten zur Sicherstellung von Teilhabe genannt (ebd.: 215). Von den dominanten Großerzählungen, die stark homogenisierend und ausschließend sind (etwa Islamismus oder Nationalismus), stellt sich die Frage, „ob heterogene Gesellschaft en nicht doch einer übergeordneten politik- und handlungsleitenden Großerzählung bedürfen, die sie in ihrem politischen und narrativen Selbstbild strukturiert, weil die Heterogenität als pures Nebeneinander nicht als sinngebend empfunden wird, wenn ihr kein sinnstiftendes Endpunkt vorausgeht, auf den diese Vielheit zuläuft und
der die Entwicklung der Gesellschaft auf diesem Weg begründet. […] ob es auch Großerzählungen einer postmigrantischen Gesellschaft geben kann, die sinnstift end und strukturierend auf Politik und Zivilgesellschaft Einfluss nehmen können, ohne exklusiv und homogenisierend zu wirken“ (ebd.: 208).

3. Postkoloniale Debatte und alternative Diskurse zur Dekolonisierung

Für den britischen Literaturwissenschaftler Paul Gilroy liegt ein relevanter Schlüssel in Analysen, die Gesellschaft von dem Sie durchziehenden Rassismus her zu denken – Analysen, die Rassismus in seiner gesellschaftsstrukturierenden Kraft ernst nehmen, statt sie auf ein Problem gesellschaftlicher Randgruppen zu reduzieren (Gilroy 2004:162 zitiert nach Kerner 2015: 231). „Es geht um die Wiederaneignung von Vergangenheit im Kontext der europäischen Kolonialgeschichte einschließlich der eng mit ihr verwobenen europäischen Rassismusgeschichte […]. Es geht um eine Revision des europäischen Selbstverständnisses, die Etablierung einer Sicht auf die europäische Moderne, welche die vielfältigen Einflüsse kolonialer und imperialer Erfahrungen ernst nimmt […]“ (ebd.). Rassismus statt kulturelle Diversität ist das zentrale Problem gegenwärtiger europäischer Gesellschaft en und eine kritische Reflexion des europäischen Rassismus zählt zu deren zentralen Hauptaufgaben (ebd.: 232). „Im Mittelpunkt einer neuen emanzipatorischen Erzählung wird ein neuer Gesellschaftsvertrag mit einer neuen Gemeinwohlformel jenseits von Wachstum und Beschäftigung stehen“ (Hirsch 2016: 10).

Notwendig sind Großerzählungen, die soziale Gerechtigkeit, Ökologische Nachhaltigkeit, demokratische Kontrolle der Gesellschaft und der Wirtschaftsprozesse, Lebensqualität für uns Menschen sowie kulturelle Sinnpotenziale ins Zentrum rücken. Zentral in diesem Zusammenhang sind Gesellschaftliche Teilhabe, Institutionalisierung von Solidarität, Wahrnehmung von Verantwortung für diese gemeinsame Sozietät, Anerkennung und Wertschätzung versus Diskriminierung, Konflikttransformation bzw. eine konstruktive Konfliktkultur und vor allem eine FriedensBildung im Sinne einer Global Citizenship Education. Dies bedeutet, „Empathie und praktische Solidarität mit jenen, die sich an viele Orten der Welt gegen die Zumutungen der imperialen Lebensweise wehren, und es bedeutet, die Würde von Menschen hierzulande und in anderen Teilen der Welt anzuerkennen, gegen Erniedrigung und Entmenschlichung aufzustehen und für ein besseres Leben zu kämpfen. […] In einem umfassenden Sinn bedeutet das, sich nicht den falschen, da auf kapitalistischer und hierarchisierender Externalisierung beruhende Wohlstandsversprechen zu ergeben, sondern Formen des gerechten, solidarischen und nachhaltigen Wohlstands zu schaff en und zu leben“ (Brand/Wissen 2017: 182).

4. FriedensBildung

FriedensBildung im Sinne einer Global Citizenship Education bedeutet, dass die Intersektionalität race/class/gender – also Diskriminierung und Machtverhältnisse in den Blick genommen werden müssen wie vor allem auch eine postkoloniale Perspektive, in der die Bedeutung der Dekolonisierung in den Fokus gerückt wird. Nach Paul Mecheril ist ein migrationspädagogischer Blick für die vorliegenden Migrationsgesellschaften von höchster Relevanz. Dies bedeutet Reflexion über die an koloniale Figuren anschließende Konstruktion des und der Fremden, ein konzentrierter Blick auf die Vielfalt der Sprachen und die Macht der Sprache, eine Reflexion über die Repräsentation von MigrantIinnen im öffentlichen Raum und in Bildungsinstitutionen, Konzentration auf die Schwächung an Rassismus anschließende Unterscheidungen und den Möglichkeiten gegen Gewaltverhältnisse vorzugehen (Mecheril 2010: 19). Im Sinne einer Global Citizenship Education müssen wir den Bürger/die Bürgerin als WeltbürgerInnen denken und aus dieser Perspektive heraus vorliegende Bildungskonzepte neu denken (siehe dazu den Artikel von Werner Wintersteiner).

Der FriedensBildung kommt in diesem Zusammenhang eine immens wichtige Bedeutung zu. Sie konnte in den letzten Jahren im schulischen Kontext nicht strukturell verankert werden, was nur ein weiteres Beispiel zunehmender Neoliberalisierung ist (siehe dazu Gruber 2015: 57–59). Auf staatlicher Ebene kommt es in unserer gegenwärtigen Gesellschaft durch die immer weiter greifende Einschränkung des öffentlichen Sektors zugunsten der gewinnorientierten Wirtschaft , beziehungsweise durch den immer weiter wachsenden Einfluss des privaten auf den öffentlichen Sektor, unter anderem zu einer geringen Gewichtung der relevanten Bildungsthemen Politische Bildung, Bildung für Nachhaltige Entwicklung und verwandter Felder. Das Kriterium der Verwertbarkeit, die Argumentation durch Sachzwänge, drängt die Auseinandersetzung mit diesen Bereichen immer mehr in den Hintergrund. Diese Entwicklungen lassen sich deutlich im gesamten Bildungssektor feststellen, dem eine entscheidende Rolle im Prozess der neoliberalen Umgestaltung der Gesellschaft zukommt. Die Schaffung von Eliteausbildungsstätten, die inhaltliche Fokussierung auf Ausbildung von ‚Arbeitskräften und  KonsumentInnen‘ und die soziale Schichtung der Gesellschaft durch ein Bildungssystem, das auf Exklusion beruht und somit dafür sorgt, dass dem neoliberalen Arbeitsmarkt auch entsprechend qualifizierte Arbeitskräfte zugeführt werden. In den letzten Jahren gewann der profitorientierte Sektor gegenüber dem öffentlichen Sektor, traditionell der größte Anbieter von Bildungsdienstleistungen, erheblich an Boden. Es wurden zunehmend Führungskräfte aus dem privaten in den öffentlichen Sektor geholt. Dazu zählen ehemalige ManageInnen, RektorInnen oder BildungsministerInnen, ebenso wie Beratungsfirmen, die nunmehr ihre marktwirtschaftlich erprobten Methoden auf den ehemals nicht gewinnorientierten öffentlichen Bildungssektor anwenden, wie dies Colin Crouch bereits in seinem Buch ‚Postdemokratie‘ eindrücklich beschrieben hat (Crouch 2008). Auf politischer Ebene hat das neue Universitätsorganisationsgesetz von 2002, mit der Schaffung von Gremien wie zum Beispiel dem Universitätsrat, in denen wiederum RepräsentantInnen aus der Wirtschaft sitzen, diese Entwicklung unterstützt.

Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Rücknahme von Drittmitteln in Forschung und Lehre seitens der öffentlichen Hand, die damit von externen, gewinnorientierten Geldgebern abhängig sind. Dieser Ökonomisierung der Bildung steht die Idee eines Bildungssystems gegenüber, das nicht nur Arbeitskräfte und KonsumentInnen ‚produziert‘, sondern mündige BürgerInnen, die sich aktiv und gestaltend für die Entwicklung einer ‚Kultur des Friedens‘ engagieren. Nur in der Verbindung einer entsprechenden Politik und FriedensBildung wird den neoliberalen Entwicklungen begegnet werden können.

5. Fazit

Die Möglichkeiten einer Veränderung gesellschaftlicher Zustände sind breit, viele Menschen der Zivilgesellschaft und viele in der Politik Tätigen erkennen die Notwendigkeit des Umbaus unserer Gesellschaft in Richtung einer Postwachstumsgesellschaft , um den Umweltzerstörungen bzw. dem Klimawandel entgegenzuwirken und die Verantwortung
wahrzunehmen, dass dieser Planet Erde auch für zukünftige Generationen noch lebenswerte Rahmenbedingungen ermöglichen kann. Die Widersprüchlichkeit der Zugänge und Ansätze ist enorm – der Unwille bzw. die Unfähigkeit der europäischen Gesellschaft etwa in der Flüchtlingsfrage zu menschenrechtskonformen Lösungen zu kommen bzw. das Fehlen einer konzertierten Auseinandersetzung über ein gemeinsames Handeln sind nur Beispiele eines multiplen Versagens, in nachhaltiger Weise zukunftsfähig endlich konzertiert aktiv zu werden. Denken wir vergleichsweise im Kontext der sozialen Desintegration an die jahrzehntelangen Debatten um einen Mindestlohn, der ein Leben ohne Armut ermöglichen würde. Ulrich Brand meint in diesem Zusammenhang: „Veränderungen der imperialen Lebensweise müssen an verschiedenen Punkten ansetzen: Es geht um andere politische Regeln sowie gesellschaftliche Selbständigkeiten und Leitbilder, welche kapitalistische Expansion und Landnahme zurückdrängen und eine solidarische Denkweise ermöglichen. […] Es geht um konkrete Dimensionen des Lebens – von Ernährung, Wohnung, Kleidung, Gesundheit u. a. – jenseits disziplinierender, die kapitalistische Expansion und Landnahme stützender und die Gesellschaft hierarchisierender Praktiken. […] Prozesse, in denen sich eine solidarische Lebensweise gesellschaftlich verallgemeinert, vollziehen sich gleichzeitig als Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und als Selbstveränderung des Denkens und Handelns der Menschen.
Kritik ist wichtig für die Entwicklung von Alternativen, weil zum einen Zukünftiges aus dem Bestehenden hervorgeht und dieses dafür überhaupt erst einmal begriffen werden muss. Zum anderen hat sich die imperiale Lebensweise in das Begehren und
in den Körper vieler Menschen eingeschrieben – Alternativen entstehen daher auch aus der politischen Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensweise und dem Zulassen alternativer Erfahrungen jenseits der imperialen Lebensweise“ (Brand/Wissen 2017: 169).

Was heute unstreitig ist – die acht Millenniumsentwicklungsziele aus dem Jahr 2000 und der Klimavertrag von Paris zeigen es – ist, dass der Weg in eine Postwachstumsökonomie beschritten werden muss. Nachhaltigkeit und Kapitalismus sind Widersprüche. Nachhaltigkeit setzt auf Ressourcenschonung hinsichtlich Gütern und Rohstoffen, der Kapitalismus auf die Schaff ung immer neuer Märkte, Verbrauch, die Ankurbelung von Konsum, der begleitende Ausbau des Verkehrs bzw. Transportes von Gütern sind inhärente Nebenerscheinungen. Es geht um eine Ökonomie jenseits des Wachstums – es
geht um eine Wende in Richtung Postwachstumsgesellschaft , wie diese im Detail auch immer umgesetzt werden kann und soll. Hier ist grundsätzlich klar, dass der entgrenzte ‚Turbo-Kapitalismus‘, die Fortschreibung des Neoliberalismus mit seinem in sich inhärenten Wirtschaftswachstum, das permanent täglich und minütlich beschworen wird, keine Lösung ist, sondern eine der Hauptursachen der weltweiten Probleme. Die Reflexion der Themen wie postkoloniale Ausbeutung bzw. Neokolonialismus in Bezug auf den Globalen Süden zeigt, dass eine solidarische Postwachstumsgesellschaft das Ziel sein muss, wobei wir derzeit nicht dorthin unterwegs sind. Die Mitverantwortung des Westens an der Dauerkrise im ‚Globalen Süden‘ ist nach wie vor kaum oder schärfer gesagt, weniger denn je in gegenwärtigen Diskursen und Auseinandersetzungen in Politik und Gesellschaft vorhanden. Anschaulich schildert Stephan Lessenich dies anhand zweier Beispiele zu Beginn seines Buches ‚Neben uns die Sintflut‘: Erstens wie sich in der Bergbaustadt Minas Gerais aufgrund des Brechens von Dämmen zweier Rückhaltebecken, in denen die Abwässer einer Eisenerzmine gesammelt wurden, 60 Millionen Kubikmeter schwermetalligen Schlamms über die Anrainergemeinden und in den Fluss Rio Doce ergossen und zweitens den Bauxitabbau für die Herstellung von Aluminium, das für die Kaffeekapseln von Nespresso benötigt wird, erzeugt im Lebensmittelkonzern Nestle. Für den kurzen und praktischen Genuss wird brasilianischer Regenwald in unvorstellbarem Ausmaß gerodet. Die beiden Geschichten verschränken den in der Globalisierung ungehemmten Kapitalismus, „des Unglücks der einen mit dem Glück der anderen“ (Lessenich 2016: 9 f. und 15 f.). Mit Ulrich Brand gesprochen: „Bisher hat sich das Projekt ‚der maximalen Oberschichtsbereicherung‘ durchgesetzt, und das ‚linksliberale Projekt von globalen Eliten‘ – man könnte auch sagen: das kosmopolitische in der Tradition von Immanuel Kant – wurde marginalisiert. Es gibt kaum Versuche, die Finanzmärkte zu regulieren beziehungsweise gar das Finanzwesen zu vergesellschaften und die Interessen der Vermögenden einzuhegen. Die Panama Papers oder die Freihandelspolitik der europäischen Union gegenüber Kanada und den USA sind ein Beleg dafür, dass die Eliten weiterhin ihre Strategie durchziehen wollen […]“ (Brand/ Wissen 2017: 166).
Die Themen, mit denen Politik und Gesellschaft sich befassen müssen, sind die gemeinsame Schaffung von Frieden in den derzeitigen Kriegsgebieten, ein gemeinsames globales Engagement für die Umsetzung der Menschenrechte aber auch Engagement für soziale und ökologische Gerechtigkeit. Es geht um ein ‚Gutes Leben für alle‘ als Vision und es braucht konkrete Szenarien für einen Weg dorthin. Eine solidarische Postwachstumsgesellschaft erfordert ein hohes Maß an demokratischer Mitbestimmung, eine Stärkung der Zivilgesellschaft und demokratische Kontrollmöglichkeiten, um nur ein paar Eckpfeiler zu nennen. Dies braucht unter anderem Menschen und eine Gesellschaft, die diese Teilhabe einfordern. Es geht nicht alleine um eine Schrumpfung der Wirtschaft. Es sind vielmehr gesamtgesellschaftliche Reflexionen darüber notwendig, welche Strukturen, welche politische Kultur und welche hegemonialen Diskurse unsere Gesellschaft gewaltvoll machen, d. h. wie die Tiefenkulturen einer Gesellschaft aussehen, die Gewalt als probates Mittel akzeptiert bzw. auch anwendet und fördert und was es auf der anderen Seite heißt, eine ‚Kultur des Friedens‘ einzuleiten: „Wir müssen […] die tief verankerten kulturellen Muster überwinden, die uns für Gewalt ‚programmieren‘ und den politischen Handlungen und ökonomischen Entscheidungen zugrunde liegen. Gewohnheiten, Verhaltensweisen und Überzeugungen, die von Ideologien, oft aber auch von Religionen gestützt werden“ (Wintersteiner 2006: 95).

In der Auseinandersetzung mit diesen Gewaltstrukturen und der Reflexion über die Voraussetzungen für ein ‚Gutes Lebens für alle‘ bedeutet dies die Notwendigkeit einer tiefen Durchdringung der gesellschaftlichen Strukturen, die ein ‚Gutes Leben für alle‘ verhindern bzw. erschweren und die Analyse, welche Rahmenbedingungen wir für die Schaff ung eines gewaltfreieren Zusammenlebens benötigen. Der FriedensBildung kommt hier eine enorme Bedeutung zu. Ihre Aufgabe ist es, junge Menschen wie Erwachsene in Richtung WeltbürgerInnentum zu sensibilisieren, was Teilhabe, Solidarität und Verantwortung für eine gemeinsame Sozietät sowie die Fähigkeit zu Widerständigkeit und Zivilcourage als wesentliche Pfeiler für die Entwicklung einer ‚Kultur des Friedens‘ im Fokus hat. Im Besonderen ist hier die Schaffung von Räumen notwendig, die das gemeinsame Philosophieren und Reflektieren über globale und gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen ermöglicht und es impliziert auch das gemeinsame Nachdenken über neue Wege in Richtung möglicher kreativer Paradigmenwechsel für ein gemeinsames ‚Gutes Leben‘, mit dem Ziel friedenspolitisch handlungsfähig zu werden.

Literatur

> Download kompletter Beitrag von Bettina Gruber inkl. Literaturhinweise (18 Seiten, pdf 1,1 MB)

> Download komplette Broschüre“Von A wie Arbeit bis Z wie Zukunft“, I.L.A. Kollektiv & Periskop (pdf 9MB)