Das Virus des „Krisennationalismus“

von Werner Wintersteiner

Die Natur beherrschen? Der Mensch ist noch nicht einmal in der Lage, seine eigene Natur unter Kontrolle zu haben, deren Narrheit ihn dazu treibt, die Natur zu beherrschen und dabei die Beherrschung seiner selbst zu verlieren. […] Er kann Viren vernichten, doch ist er neuen Viren gegenüber machtlos, sie widerstehen seinen Zerstörungsversuchen, verwandeln und erneuern sich … Selbst bezüglich der Bakterien und Viren muß er mit dem Leben und mit der Natur verhandeln und wird das auch weiterhin müssen. (Edgar Morin)[1]

Humanity needs to make a choice. Will we travel down the route of disunity, or will we adopt the path of global solidarity? (Yuval Noah Harari)[2]

 „Krisennationalismus“

Die Corona-Krise führt uns den Zustand der Welt vor Augen. Sie zeigt uns, dass die Globalisierung bislang gegenseitige Abhängigkeit ohne gegenseitige Solidarität gebracht hat. Das Virus verbreitet sich global, und seine Bekämpfung würde globale Anstrengungen auf vielen Ebenen erfordern. Doch die Staaten reagieren mit nationalem Tunnelblick. Hier siegt die (nationalistische) Ideologie über die Vernunft, manchmal selbst über die beschränkte ökonomische oder gesundheitspolitische Vernunft. Nicht einmal in der selbstproklamierten „Friedensmacht Europa“, der Europäischen Union, ist ein Zusammenhalt zu spüren. „Die Mitgliedsstaaten sind vom Krisennationalismus erfasst“, wie Raimund Löw es sehr treffend formuliert.[3]

Der globalen Krise angemessen wäre hingegen eine Perspektive von Global Citizenship. Das meint nicht einen illusionären „Weltbürgerstandpunkt“, den gibt es nämlich gar nicht, sondern es bedeutet, den „methodischen Nationalismus“ (Ulrich Beck) aufzugeben und dem „Reflex“ des Nationalismus, des Lokalpatriotismus und des Gruppenegoismus zumindest bei der Wahrnehmung des Problems zu entsagen. Es bedeutet ferner, auch beim Urteilen und Handeln die Haltung „America first, Europe first, Austria first usw.“ zu überwinden und sich an der Leitidee der globalen Gerechtigkeit zu orientieren. Zu viel verlangt? Dabei ist das doch nichts anderes als die Einsicht, dass wir uns als Nation, als Staat oder als Kontinent nicht einzeln retten können, wenn wir mit globalen Herausforderungen konfrontiert werden. Und dass wir daher sowohl ein globales Denken wie auch globale politische Strukturen brauchen.

Dass es noch nie leicht war, diesen Reflexen zu entgegen, dazu eine literarische Illustration – das Theaterstück Der Weltuntergang (1936) des österreichischen Dichters Jura Soyfer. Vor dem Hintergrund des Aufstiegs des Nationalsozialismus zeichnet er ein Szenario der absoluten Bedrohung – nämlich die Gefahr der Auslöschung der Menschheit. Doch wie reagieren die Menschen? Es lassen sich drei Phasen ablesen: Die erste Reaktion ist Leugnung, dann kommt die Panik, und schließlich eine (kaum sinnvolle) Aktivität um jeden Preis:[4] Zunächst glauben die Politiker den Warnungen der Wissenschaft nicht. Als sich die Katastrophe aber unleugbar nähert, ist keinerlei Solidarität zu bemerken, um gemeinsam die Gefahr vielleicht doch noch abzuwenden. Weder zwischen den Staaten, noch innerhalb der einzelnen Gesellschaften. Vielmehr schlagen die Reichsten noch einmal Profit aus der Situation, in dem sie eine „Weltuntergangsanleihe“ auflegen und in ein sündteures Raumschiff investieren, um sich individuell zu retten. Schließlich kann nur ein Wunder den Untergang abwenden. Der Komet, ausgesandt die Erde zu vernichten, verliebt sich in sie und verschont sie deshalb. Das Stück ist ein indirekter, aber sehr eindringlicher Appell an die globale Solidarität.

Heute ist natürlich alles ganz anders. Die COVID-19 Krise ist kein Weltuntergang, und die meisten Regierungen strengen sich an, alle gebotenen Maßnahmen zu ergreifen, um die Ausbreitung des Virus so weit zu verlangsamen, dass inzwischen Gegenkräfte aufgebaut werden können. Und in Österreich bemüht man sich bislang durchaus, die Auswirkungen sozial und was die Generationen betrifft einigermaßen gerecht abzufedern. Allerdings dürfen wir gerade in einer Ausnahmesituation wie dieser nicht gänzlich in der Bewältigung des Alltags aufgehen, sondern wir brauchen mehr denn je das kritische Beobachten und das kritische Denken. Schließlich sind wegen des Corona-Virus plötzlich Eingriffe in Grundrechte möglich, die in normalen Zeiten undenkbar wären.

Wir können uns zum Beispiel fragen: Ist wirklich alles ganz anders als im Stück von Jura Soyfer? Kennen wir die Verhaltensweisen, die der Dichter schildert – Leugnung, Panik, Aktionismus – nicht bereits von der Klimakrise? Was tun wir, um die Fehler, die bislang verhindert haben, dass wir den Klimawandel wirksam eindämmen, bei der heutigen Krise nicht wiederholen? Vor allem: Wo bleibt die Solidarität der viel beschworenen „irdischen Schicksalsgemeinschaft“? Denn in einem Punkt unterscheidet sich unsere Realität sehr klar vom Theaterstück: Uns wird kein Wunder retten.


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Welch drastische Auswirkungen der enge (nationale oder eurozentrische) Tunnelblick hat, soll nun an einigen Beispielen gezeigt werden.

Wahrnehmen: Ein „chinesisches Virus“?

Die verengte Sichtweise trübt bereits unsere Wahrnehmung des Problems. Wochenlang, wenn nicht monatelang haben wir die Corona-Epidemie beobachten können, aber wir haben sie als chinesische Angelegenheit abgetan, die uns nur peripher betrifft. (Natürlich haben auch die anfänglichen Vertuschungsversuche der chinesischen Regierung dazu beigetragen.) Präsident Trump spricht inzwischen ganz gezielt vom „Chinese Virus“, nachdem er es ursprünglich als „foreign virus“ tituliert hatte.[5] Und erinnern wir uns an die ersten „Erklärungen“ für den Ausbruch der Krankheit – die fragwürdigen Essgewohnheiten der Chinesen und die schlechten sanitären Bedingungen auf den Wildmärkten. Der moralisierende und auch rassistische Unterton war nicht zu überhören. Erst als die Epidemie auf Italien übergesprungen ist, haben wir uns wieder daran erinnert, dass Globalisierung komplexe Verflechtung bedeutet – aber eben nicht nur von Handelsströmen, Produktionsketten und Kapitalflüssen, sondern auch von Viren. Doch dass unsere Methoden der Massentierhaltung bereits mit einer gewissen Regelmäßigkeit Epidemien verursachen und eine noch wenig thematisierte, aber bereits jährlich tausendfach tödliche Resistenz von Bakterien gegen Antibiotika fördern, dass also unsere gesamte Lebensweise bestehende Risiken ins Globale steigert, das wollen wir auch jetzt noch nicht zur Kenntnis nehmen.

Handeln: „Rette sich, wer kann“ als Lösung?

Corona hat wieder einmal bestätigt, was schon im Vorjahr anlässlich der erstmals wirklich weltweiten Diskussion über die Klimakrise zu bemerken war: Globale Gefährdungen bewirken keineswegs automatisch globale Solidarität. In jeder Krise reagieren wir im Prinzip, d.h. wenn wir nicht vorher andere Mechanismen aufgebaut haben, nicht nach dem Motto „zusammenhalten“, sondern nach der Maxime „Rette sich, wer kann, jede*r einzeln“. So ist es auch kein Wunder, dass die meisten Staaten Grenzschließungen als erste und probateste Maßnahme ansahen, um die Ausbreitung von Corona einzudämmen, ebenso wie die Bevorzugung der eigenen Landsleute bei Rücktransporten einer nationalistischen Logik folgt.[6] Man wird sagen, dass Grenzschließungen eine vernünftige Entscheidung sind, denn die Gesundheitssysteme seien nun einmal national organisiert und es stehe also gar kein anderes Instrumentarium zur Verfügung. Das ist richtig, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Wäre es, statt pauschaler Grenzsperren, nicht sinnvoller, betroffene „Regionen“ zu isolieren, und zwar ausschließlich nach Maßgabe der gesundheitlichen Gefährdung, also durchaus auch grenzüberschreitend, wo nötig? Dass das derzeit nicht möglich ist, daran zeigt sich schließlich, wie unvollkommen unser internationales System ist. Wir haben globale Probleme erzeugt, aber keine Mechanismen für globale Lösungen zustande gebracht. Es gibt die Weltgesundheitsorganisation WHO, aber sie hat nur sehr wenige Kompetenzen, ist nur zu 20 Prozent durch die Mitgliedsländer finanziert und daher von privaten Donors, darunter auch Pharmakonzernen, abhängig. Ihre bisherige Rolle in der Corona-Krise ist umstritten. Und nicht einmal die Mitgliedstaaten der EU haben bisher auch nur in Ansätzen ein gesamteuropäisches Gesundheitssystem aufbauen können. Die Gesundheitspolitik ist nationale Kompetenz. Auch für den 2001 beschlossenen EU-Zivilschutzmechanismus wurden bislang entsprechenden Strukturen geschaffen. Deshalb reagieren wir wie bei der „Flüchtlingskrise“ – mit Abschottung. Aber es funktioniert halt bei einem Virus noch viel weniger als bei Menschen auf der Flucht.

Der (nationale) Egoismus geht noch weiter. Ein besonderes Beispiel ist wohl der Fall der Tiroler Wintersportgebiete, vor allem Ischgl. Offenbar ist die Säumigkeit der Tiroler Tourismusindustrie und der Gesundheitsbehörden für dutzende Infektionen internationaler Skiurlauber*innen verantwortlich, was für einen Schneeballeffekt in etlichen Ländern gesorgt hat. Trotz der Warnungen der Notärzt*innen, der isländischen Gesundheitsbehörden und des Robert-Koch-Instituts wurde weder der Skibetrieb sofort eingestellt noch wurden die Gäste isoliert. Inzwischen sind bereits die Gerichte mit dem Fall beschäftigt. „Man hat das Virus sehenden Auges aus Tirol in die Welt getragen. Es wäre überfällig, sich das einzugestehen und sich dafür zu entschuldigen“, meinte völlig zurecht ein Innsbrucker Hotelier.[7] Er spricht damit als einer der wenigen die internationale Verantwortung Österreichs und damit die Idee der weltweiten Solidarität an.

Wie negativ sich diese Haltung der nationalen Abschottung, die Österreich mitträgt, auf uns selbst auswirkt, ist in den Krisenwochen Mitte März 2020 sichtbar geworden: Das nach Protesten wieder aufgehobene deutsche Ausfuhrverbot für medizinisches Equipment hat eine Woche lang verhindert, dass dringend benötigtes und bereits bezahltes Material nach Österreich importiert werden darf.[8] Noch gravierender ist die Situation der häuslichen Pflege alter und kranker Menschen, bei der unser Land auf Pfleger*nnen aus EU-(Nachbar-)Staaten angewiesen ist. Doch diese können wegen der Grenzschließungen nicht mehr in gewohnter Weise ihren Turnus versehen.

Inzwischen hat die Europäische Union, die offensichtlich selbst auf Notbetrieb geschaltet hat, zumindest erreicht, dass der Handel mit medizinischer Ausrüstung innerhalb der EU wieder voll zu liberalisiert wurde, während zugleich die Ausfuhr aus der Union eingeschränkt ist.[9] Ein Lernprozess? Vielleicht. Doch ist das nicht in letzter Konsequenz statt eines nationalen ein europäischer Egoismus? Und die Probe auf die internationale Solidarität kommt ja erst, wenn Afrika in stärkerem Maße von Corona erfasst sein wird!

Am schlimmsten hat sich die mangelnde europäische Solidarität auf Italien ausgewirkt. Die Staaten der Europäischen Union, obwohl erst später als Italien betroffen, waren die längste Zeit mit sich selbst beschäftigt. „The EU is abandoning Italy in its hour of need. In a shameful abdication of responsibility, fellow countries in the European Union have failed to give medical assistance and supplies to Italy during an outbreak”, heißt es in einem Kommentar der US-Zeitschrift Foreign Policy, ohne allerdings zu erwähnen, dass auch die USA Italiens Hilferuf überhört haben.[10] Hingegen haben China, Russland und Kuba medizinisches Personal und Ausrüstung geschickt. China unterstützt auch europäische Länder wie Serbien, die von der EU alleingelassen worden sind. Das wird von einigen Medien als chinesische Machtpolitik ausgelegt.[11] Wie dem auch sei, die EU hätte es in der Hand, einem Beitrittskandidaten auch beizustehen!

Eine bizarre Situation ist auch auf der irischen Insel entstanden, wo – solange der Brexit noch nicht vollständig vollzogen ist – die Grenze zwischen der Republik und dem britischen Nordirland im Alltag nicht spürbar ist. Mit Corona hat sich das geändert. Denn während Dublin, wie die meisten EU Staaten, strenge Kontaktbeschränkungen einführte, hielt Großbritanniens Premier Boris Johnson dies die längste Zeit nicht nötig (Ideologie der „Herdenimmunität“) und ließ die Schulen geöffnet, auch in Nordirland. Dies veranlasste den ORF-Korrespondenten zu folgendem Kommentar: „Es geht einmal mehr darum zu zeigen, wie britisch man ist. […] Beim Corona-Virus offenbar steht die Identität selbst über der Geographie. […] Es ist bizarr, dass eine unsichtbare Grenze darüber entscheiden soll, ob Kinder zur Schule gehen oder nicht.“[12] Die satirische Zeitung Tagespresse bringt die absurde Situation auf den Punkt, indem sie berichtet, die europäischen Staaten dächten jetzt erstmals über die Gründung einer Europäischen Union nach: „Bisher musste jeder europäische Staat auf eigene Faust gegen Corona ankämpfen. Doch jetzt macht eine ungewöhnliche Idee im Kontinent die Runde: Durch die Bildung einer Art gemeinsamer ‚Union‘ könnten die Staaten womöglich kooperieren und so ihre Kräfte bündeln. Eine Idee, die so irrwitzig wie faszinierend anmutet.“[13]

Vernachlässigen: Wer spricht noch von den Geflüchteten?

Bei allen Maßnahmen der österreichischen Regierung, so sinnvoll sie auch sein mögen, fällt auf, dass kaum noch die Rede von den Ärmsten und Rechtlosesten in der Gesellschaft ist – von Menschen, die bei uns in Flüchtlingsquartieren mitunter auf engstem Raum leben und im Falle einer Ansteckung wohl besonders gefährdet sind. Asyl und Migration sind in der medialen Berichterstattung in den Hintergrund getreten. Das Flüchtlingselend auf Lesbos – also ebenfalls innerhalb der EU – scheint nun, wo wir so mit uns selbst beschäftigt sind, aus der Tagesaktualität verdrängt zu sein. Staaten wie Deutschland, die sich noch vor kurzem bereit erklärt hatten, unbegleitete Jugendliche und Familien aufzunehmen, haben das Vorhaben zunächst einmal ausgesetzt. Und Österreich wollte sich an dieser Initiative ohnehin niemals beteiligen. Selbst der dringende Appell der europäischen Zivilgesellschaft zur Evakuierung der Flüchtlingslager in Griechenland ist bislang ungehört verhallt.[14] In der Krise zeitigt der nationale Egoismus eben besonders fatale Folgen. Der Schriftsteller Dominik Barta führt uns plastisch vor Augen, was fehlende citizenship im Falle der Coronakrise praktisch bedeutet:

Der Mailänder Bürger, der am Coronavirus stirbt, stirbt in seinem Land, unter der Hand von erschöpften Ärzten und Ärztinnen, die, solange es eben ging, Italienisch mit ihm sprachen. Er wird in seiner Gemeinde begraben und von seiner Familie betrauert werden. Der Flüchtling auf Lesbos wird sterben, ohne dass ihn je ein Arzt gesehen hat. Fernab seiner Familie wird er, wie man sagt, verenden. Ein namenloser Toter, den man in einem Plastiksack aus dem Lager schaffen wird. Der syrische oder kurdische oder afghanische oder pakistanische oder somalische Flüchtling wird nach seinem Tod eine Leiche sein, aufgehoben in keinem personalisierten Grab. Wenn überhaupt, wird er in die anonymen Zahlenreihen der Statistik Eingang finden. […] Haben wir Europäer, gerade in Krisenzeiten, ein Gefühl für den Skandal der völlig entrechteten Existenz?[15]

Prahlen: „Krieg“ gegen Corona?

Regierungen auf der ganzen Welt haben dem Coronavirus „den Krieg erklärt“. China hat den Anfang gemacht, mit Präsident Xi Jinpings Slogan, „die Fahne der Partei möge hoch fliegen an der Frontlinie des Schlachtfelds”.[16] Noch ein paar Kostproben: „South Korea declares ‚war‘ on the coronvirus”; “Israel Wages War on Coronavirus and Quarantines Visitors”; “Trump’s War Against the Coronavirus Is Working” usw. Und Präsident Macron in Frankreich: “Wir sind im Krieg, im Gesundheitskrieg wohlgemerkt, wir kämpfen […] gegen einen unsichtbaren Feind. […] Und weil wir im Krieg sind, muss von nun an jede Aktivität der Regierung und des Parlaments auf den Kampf gegen die Epidemie ausgerichtet werden“.[17] Selbst UN-Generalsekretär António Guterres meint sich dieses Vokabulars bedienen zum müssen, um auf den Ernst der Situation aufmerksam zu machen.[18]

Diese Militarisierung der Sprache, die der Sache – der Bekämpfung einer Pandemie – überhaupt nicht angemessen ist, hat trotzdem eine Funktion. Zum einen soll sie die gesellschaftliche Akzeptanz für drastische Maßnahmen, die die bürgerlichen Freiheiten einschränken, erhöhen. In einem Krieg müssten wir so etwas eben akzeptieren! Zum anderen wird damit auch die Illusion erzeugt, wir könnten das Virus ein für alle Mal unter Kontrolle bekommen. Denn Kriege werden geführt, um sie zu gewinnen. „Wir werden gewinnen, und wir werden moralisch stärker dastehen als zuvor“, hat etwa der aufgrund seiner Sozialpolitik innenpolitisch schwer bedrängte Macron großspurig verkündet. Dass das Virus gekommen ist, um zu bleiben, und wir wohl dauerhaft mit ihm werden leben müssen, das sagt er nicht.

Mit der Rede vom Krieg ist es wie mit den Grenzschließungen. Beides hat auch eine nicht zu unterschätzende symbolische Bedeutung. Damit wird eine Rückkehr der Staatssouveränität gefeiert. Denn die Globalisierung der Wirtschaft hat dazu geführt, dass nationale Regierungen immer weniger Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung im eigenen Land haben und dass sie ihren Bürger*innen auch kaum Schutz vor Deklassierung, Arbeitslosigkeit und einschneidenden Veränderungen des Lebens bieten können. Mit Corona erleben wir eine Renationalisierung der Politik und damit wieder einen Spielraum für die Regierungen. Und so reden sie von Kriegen, die sie gewinnen wollen, und verkünden damit, wie mächtig sie sind.

Antworten: „Politischer Kosmopolitismus“

All dem genannten nationalen Egoismus steht zugleich sehr viel Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und innergesellschaftliche Solidarität, aber auch grenzüberschreitende Unterstützung gegenüber. In verschiedensten Formen hat dieser Wille zur Solidarität seinen öffentlichen Ausdruck gefunden. Allerdings verhindern die fehlenden transnationalen politischen Strukturen und der „methodische Nationalismus“ derzeit noch, dass diese Solidaritätsbereitschaft auch entsprechend globale Wirksamkeit erreichen kann. Dabei zeigt gerade die großartige weltweite Zusammenarbeit der medizinischen Wissenschaft in der Corona-Krise, welches Potential heute bereits für globale Solidarität zur Verfügung steht. Und auch die Kooperation der Regionen unterhalb der staatlichen Ebene funktioniert offenbar: Patient*innen aus dem schwer betroffenen französischen Elsass wurden in die benachbarte Schweiz bzw. nach Baden-Württemberg gebracht.[19]

Es ist bezeichnend, dass einer der wenigen, die konsequent globale politische Vorschläge zur Eindämmung von Corona machen, ausgerechnet der Milliardär Bill Gates ist, der bereits im Februar (als bei uns noch viele hofften, halbwegs ungeschoren davon zu kommen) in einem Artikel im New England Journal of Medicine[20] forderte, dass die reichen Staaten den ärmeren helfen sollten. Deren schwache Gesundheitssysteme könnten schnell überfordert sein und sie hätten auch weniger Mittel, die wirtschaftlichen Folgen abzufangen. Medizinische Ausrüstung und vor allem Impfstoffe dürften nicht möglichst gewinnbringend verkauft werden, sondern müssten zunächst den Regionen zur Verfügung gestellt werden, die sie am dringendsten brauchen. Die Gesundheitsversorgung der Staaten mit geringem und mittlerem Einkommen (LMICs) müsse mit Hilfe der Weltgemeinschaft strukturell auf ein höheres Niveau gehoben werden, um gegen weitere Pandemien gewappnet zu sein. Hier wiederholt sich in geradezu klassischer Weise die problematische Konstellation, dass die Staaten – die Demokratie und soziale Gerechtigkeit für sich reklamieren – eine eng nationalistische Politik verfolgen, während sie das globale Engagement den großen Konzernen (und deren Interessen) überlassen. Auch die Bill Gates-Stiftung, deren Einsatz für Gesundheitsfragen unbestritten ist, finanziert sich teilweise aus Gewinnen von Unternehmen, die – Junkfood produzieren.[21]

In der gegenwärtigen Situation mag die Kritik an den nationalen Sonderwegen wie ein aussichtsloser moralischer Appell wirken. Aber die Einsichten, die uns Corona (wieder einmal) vermittelt, sind ja nicht neu. Schon vor Jahrzehnten haben Wissenschaftler*innen wie Carl Friedrich Weizsäcker oder Ulrich Beck das Konzept der „Weltinnenpolitik“ propagiert. Das bedeutet nichts anderes, als die demokratischen Prinzipien, die im Inneren unserer Staaten gelten, auch in der Außenpolitik anzuwenden, um das vorherrschende Recht des Stärkeren durch die Stärke des Rechts zu ersetzen. Dafür müssen auch geeignete Strukturen geschaffen werden. Der deutsche Philosoph Henning Hahn nennt dies den „politischen Kosmopolitismus“, der einen bereits bestehenden „moralischen Kosmopolitismus“ ergänzen müsse.[22] Nicht nur er tritt für die „realistische Utopie eines globalen Menschenrechtsregimes“ ein. Mit anderen Worten: Die Kräfte in Wissenschaft und Zivilgesellschaft, die sich für eine Demokratisierung der Weltgesellschaft einsetzen, für Global Citizenship also, sind bereits vorhanden. Nur haben sie noch zu wenig politisches Gewicht, auch wenn der ehemalige UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon 2012 mit seinem Appell „We must foster global citizenship“ die Staaten der Welt auf diese Orientierung einzuschwören versuchte.[23] In unserem konkreten Fall heißt das, dass wir außerhalb der Krisenzeiten Strukturen und Mechanismen schaffen oder bestehende wie die WHO stärken müssen, damit diese globale Koordination und gegenseitige Hilfe bei Seuchen und Pandemien leisten. Denn das ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, den „Rette sich, wer kann“-Reflex tatsächlich zu überwinden. Schließlich haben Gesundheitsexpert*innen spätestens bei der Ebola Krise 2015 gewarnt, dass es keine Frage des Ob, sondern nur eine Frage des Wann sei, bis die nächste Pandemie ausbricht.[24]

Lernen: „Da sein auf dem Planeten“

Gedankenlos haben wir die Vorteile der Globalisierung genossen. Die Klimakrise und politische Bewegungen wie Fridays for Future haben uns zwar nachdrücklich daran erinnert, dass wir dabei auf Kosten der großen Masse der Ärmeren auf der Welt und zu Lasten künftiger Generationen leben. Entsprechende Konsequenzen hat diese vage Einsicht bislang aber nicht gezeitigt. Wir wollen unsere „imperiale Lebensweise“ (Ulrich Brand) nicht so leicht aufgeben. Vielleicht kann uns aber die jetzige Pandemie zu einer tieferen Erkenntnis führen. Schließlich haben wir uns nun in wenigen Tagen zu drastischen Maßnahmen durchgerungen, während wir den Kampf gegen den Klimawandel nur allzu zögerlich angegangen sind. Und so neu wäre die Erkenntnis, dass wir gemeinsam handeln müssen, ja auch wieder nicht. Schon vor 30 Jahren hat Milan Kundera vor der Euphorie der “einen Welt“ gewarnt, die letztlich nur eine „Weltrisikogesellschaft“ (Ulrich Beck) darstelle: „Das Einssein der Menschheit bedeutet: Niemand kann irgendwohin entkommen.“[25]

Ausgehend von ähnlichen Überlegungen hat der französische Philosoph Edgar Morin die Begriffe „irdische Schicksalsgemeinschaft“ und „Heimatland Erde“[26] geprägt. Wir müssen einsehen, dass wir weltweit aufeinander angewiesen sind. Für die großen Weltprobleme kann es heutzutage keine nationalen Sonderwege mehr geben. Wenn wir eine Zukunft haben wollen, so Morins Argumentation, kommen wir um einen radikalen Wandel unserer Lebensgewohnheiten, unserer Wirtschaftsweise wie auch unserer politischen Organisation nicht herum. Ohne auf die Nationalstaaten zu verzichten, sei es doch nötig, darüber hinaus transnationale und globale Strukturen zu schaffen. Aber – und das ist entscheidend – wir müssten auch eine andere Kultur entwickeln, um diese Strukturen mit Leben zu füllen. Die „irdische Schicksalsgemeinschaft“ ernst zu nehmen, bedeute:

Wir müssen lernen, da zu sein auf dem Planeten. Lernen zu sein bedeutet: lernen zu leben, teilzuhaben, zu kommunizieren, ein Gefühl der Gemeinsamkeit zu entwickeln; es ist das, was man in den und durch die in sich abgeschlossenen Kulturen gelernt hat. Jetzt müssen wir in unserer Rolle als Menschen des Planeten Erde lernen zu sein, teilzuhaben, zu kommunizieren und ein Gefühl der Gemeinsamkeit zu entwickeln. Nicht nur einer Kultur anzugehören, sondern der Erde.[27]

Wenn die Corona Krise dazu führt, diese Einsicht zu verbreiten, dann haben wir wohl das Beste daraus gemacht, was man aus so einer Katastrophe machen kann.

 

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Literatur

[1] Edgar Morin/Anne Brigitte Kern: Heimatland Erde. Wien: Promedia 1999, S. 200.

[2] http://archive.is/mGB55

[3] Der Falter 13/2020, S. 6.

[4] Vgl. dazu auch den Hinweis auf den Soziologen Philipp Strong, der ganz ähnliche Verhaltensweisen in Krisen diagnostiziert hat, in: https://www.wired.com/story/opinion-we-should-deescalate-the-war-on-the-coronavirus/

[5] https://www.politico.com/news/2020/03/18/trump-pandemic-drumbeat-coronavirus-135392

[6] Einen globalen Gesamtüberblick findet man in der NZZ vom 19. 3. 2020: https://www.nzz.ch/wissenschaft/coronavirus-weltweit-die-neusten-entwicklungen-nzz-ld.1534367

[7] Steffen Arora, Laurin Lorenz, Fabian Sommavilla in: Der Standard online, 17.3.2020.

[8] https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/oesterreich/2054840-Deutschland-genehmigte-Ausfuhr-von-Schutzausruestung.html

[9] NZZ, 17. 3. 2020.

[10] FP, 14. 3. 2020, https://foreignpolicy.com/2020/03/14/coronavirus-eu-abandoning-italy-china-aid/

[11] Z.B. Der Tagesspiegel, 19. 3. 2020: „Wie sich China in der Corona-Krise Einfluss in Europa sichert“.

[12] Martin Alioth, ORF Mittagsjournal, 17. 3. 2020.

[13] Die Tagespresse, 30. 3. 2020, https://dietagespresse.com/gemeinsam-corona-bekaempfen-europaeische-staaten-ueberlegen-bildung-einer-art-union/

[14] Zu finden etwa auf: www.volkshilfe.at

[15] Dominik Barta: Viren, Völker, Rechte. In: Der Standard, 20. 3. 2020, S. 23.

[16] China Daily, zitiert nach: https://www.wired.com/story/opinion-we-should-deescalate-the-war-on-the-coronavirus/

[17] https://fr.news.yahoo.com/ (eigene Übersetzung).

[18] Ansprache „Declare War on Virus“, 14. März 2020. https://www.un.org/sg/en

[19] Badische Zeitung, 21. März 2020. https://www.badische-zeitung.de/baden-wuerttemberg-nimmt-schwerstkranke-corona-patienten-aus-dem-elsass-auf–184226003.html

[20] https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMp2003762?utm_source=newsletter&utm_medium=email&utm_campaign=newsletter_axiosam&stream=top

[21] https://www.infosperber.ch/Artikel/Gesundheit/Corona-Virus-Das-Dilemma-der-WHO

[22] Henning Hahn: Politischer Kosmopolitismus. Praktikabilität, Verantwortung, Menschenrechte. Berlin/Boston: De Gruyter 2017.

[23] UNO Generalsekretär Ban Ki-moon, 26. September 2012, anlässlich des Starts seiner “Global Education First” Initiative (GEFI). https://www.un.org/sg/en/content/sg/statement/2012-09-26/secretary-generals-remarks-launch-education-first-initiative

[24] https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMp1502918

[25] Milan Kundera: Die Kunst des Romans. Frankfurt: Fischer 1989, 19.

[26] Terre Patrie – Heimatland Erde. Siehe Anmerkung 1.

[27] Morin 1999, wie Anmerkung 1, S. 201.